Politik
23.03.2016

Schengen droht zum Totengräber der EU zu werden

Schengen – eine typische europäische Geschichte ohne Ende? Oder gar „Spaltpilz“ mit schlimmeren Folgen für die Zukunft der EU? Anders ausgedrückt: Was muss angesichts der Attentate in Paris und Brüssel noch geschehen, damit die EU-Regierungen endlich längst überfällige Schritte in die Tat umsetzen?

Maastricht und die „hinkende Union“

Führt man sich die 30 Jahre Schengen vor Augen, so muss man unwillkürlich an die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion denken. Sie war aufgrund deutsch-französischen Dissenses in Maastricht notgedrungen als „hinkende Union“ auf die Reise geschickt worden.

Damals glaubte man noch, die EU werde bis zur Einführung des Euro diese Schwäche beheben – leider zu Unrecht. Appelle von Jacques Delors und anderen, die Konzertation der Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik in dieses wegweisende Projekt einzubeziehen, verhallten ungehört. Erst dank der Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise wurden Teilfortschritte erreicht – die Wirtschafts- und Währungsunion muss heute mit dem Handikap leben, insoweit noch nicht über eine langfristig durchhaltefähige Struktur zu verfügen.

Nicht anders scheint es uns in Sachen Schengen zu ergehen. Erst die Terroranschläge in Europa und die Flüchtlingsströme aus dem Mittleren Osten erinnerten plötzlich daran, dass das Projekt Schengen in Wahrheit ein anderes war. Wir haben dies anscheinend in unserer heilen europäischen Welt vergessen.

Worum war es 1984/85 gegangen?

1984/85 hatten sich fünf der sechs EG-Gründerstaaten – Frankreich, Deutschland und die Benelux-Länder – ein Herz gefasst und untereinander einen Traum der europäischen Bewegung in die Tat umgesetzt und im Vorgriff auf den Binnenmarkt die Grenzkontrollen abgeschafft. Zusammen mit der späteren Einführung des Euro und des Erasmus-Programmes war die Unterzeichnung des Schengener Übereinkommens wahrscheinlich die letzte europäische Großtat, der Bürger und Wirtschaft uneingeschränkt Beifall zollten!

Verbunden mit der Öffnung der Binnengrenzen war jedoch die Erwartung,  „Ausgleichsmaßnahmen“ im polizeilichen und fiskalpolitischen Bereich zu verabschieden, um die entstandenen Nachteile für Polizei und Fiskus in Sachen Verbrechensbekämpfung, Terrorismus sowie Steuerhinterziehung durch Zusammenarbeit auszugleichen. Immer wieder gesagt, in der Sache passierte nichts oder sehr wenig.

Die Vorschläge liegen seit 25 Jahren auf dem Tisch, in der Essenz unerledigt. Mehrmals ergriff in jenen Jahren Bundeskanzler Helmut Kohl vergeblich die Initiative. Bereits im Juni 1988 trug er beim Europäischen Rat auf Rhodos den Gedanken der Schaffung eines „Euro-FBI“ vor. Helmut Kohl’s Kollegen nahmen die Vorschläge freundlich zur Kenntnis, der Begriff „FBI“ schien manche zu stören.

Dublin-Abkommen von Beginn an unzureichend

1990 wurde dann Schengen unter mittlerweile sieben EU-Mitgliedstaaten umgesetzt – Spanien und Portugal waren hinzugekommen – und die EU unternahm mit dem Übereinkommen von Dublin einen ersten, in der Sache wenig tauglichen Versuch, die unterschiedlichen Asyl-Politiken in Europa verfahrensmäßig einander anzunähern.

Sechs Monate vor Maastricht unternahm Helmut Kohl einen zweiten Anlauf. Der Europäische Rat in Luxemburg billigte im Juni 1991 sogar ein Papier, das die stufenweise Schaffung einer gemeinsamen Polizeibehörde „Europol“ mit Exekutivbefugnissen sowie einer gemeinsamen Einwanderungs-, Asyl- und Ausländerpolitik vorsah. Im Grunde das, was heute längst Standard sein müsste.

Wir hatten uns jedoch zu früh gefreut – die federführenden Außenminister waren kaum interessiert, und die EU-Innenminister schafften das Kunststück, den Plan binnen sechs Monaten zu beerdigen, die „Bedenkenträger“ sahen wider besseren Wissens weder die reale Entwicklung noch die Notwendigkeit ein, dass sie ihre vermeintlich noch vorhandene nationale Souveränität nur durch eine effiziente Bündelung der Kräfte retten könnten.

Zusammenarbeit mit Hindernissen

Bezeichnend für den Realitätsverlust der nationalen Bürokratien war es schon damals, dass diese Vorschläge hinter dem Rücken der Innenminister und ihrer Bürokratien entwickelt werden mussten – mit heimlicher Unterstützung seitens polizeilicher Praktiker.

Sechs Jahre später war es wieder Helmut Kohl, der 1997 mit Blick auf Amsterdam den dritten Anlauf startete. Bescheidener geworden, ging es vorrangig darum, in Richtung auf eine gemeinsame Innen- und Justizpolitik, vor allem durch die Übernahme von Schengen in den EU-Rahmen und der Zuordnung erster Befugnisse an Europol voranzukommen.

Mit dem Amsterdamer Vertrag im Rücken unternahm der erste EU-Kommissar für Innen- und Justizpolitik, Antonio Vitorino, im Herbst 1999 einen erneuten Anlauf. Auch ihm versagten die Mitgliedstaaten im Herbst 1999 die Gefolgschaft! Dublin wurde fortentwickelt, ohne zu einem tragfähigen Instrument zu werden, ein gemeinsamer Grenzschutz „Frontex“ entstand auf dem Papier, die Verantwortung für die Aussengrenzen blieb aber allein bei den Mitgliedstaaten.

Angesichts der offenkundigen Schwächen der Zusammenarbeit bei den jüngsten Teroranschlägen, angesichts eines unverändert mangelnden Austauschs von Informationen zur Durchführung von Grenzkontrollen wie zur Verfolgung von grenzüberschreitenden Verbrechen und Terrorismus muss man sich heute ernsthaft fragen, was noch geschehen muss, damit die Innenbehörden endlich begreifen, dass Sicherheit nur gemeinsam zu erreichen ist!

Roadmap bis 2020

Die EU braucht heute dringend einen unzweideutigen „Marschbefehl“  seitens der Staats- und Regierungschefs an die Innen- und Justizminister – ggf. zunächst in einem kleineren Rahmen derjenigen, die das auch tatsächlich wollen – einen gemeinsamen Raum der Freiheit und Sicherheit mit Hilfe eines ehrgeizigen, verpflichtenden Programms – ähnlich dem Delors’schen Binnenmarkt – bis spätestens 2020 in allen seinen Teilen endlich voll zu verwirklichen.

Ein solches konkretes Programm müsste insbesondere Folgendes umfassen: Nach dem Vorbild von FBI und Bundeskriminalamt muss Europol als exekutive europäische Polizeibehörde für bestimmte Deliktstypen ausgebaut werden, einschließlich dem Kampf gegen den Terrorismus.-  Ein automatisiertes Informationssystem muss eingerichtet werden, das die Informationen von Polizei,  Justiz wie Fiskus und der verschiedenen Dienste ohne Einschränkung einbezieht und an den Außengrenzen wie im Innern Anwendung findet.-  Die EU-Außengrenzen müssen durch „Frontex“, ggf. einschließlich national abgestellter Einheiten gesichert werden.-  Die EU muss eine tragfähige gemeinsame Immigrations-, Asyl- und Ausländerpolitik entwickeln, aufbauend auf gemeinsamen Standards und Zielsetzungen.

Europa funktioniert nur mit Schengen

Ein solcher „ganzheitlicher“ Ansatz setzt das enge Zusammenwirken mit der EU-Aussen- und Sicherheitspolitik, vor allem mit einer grundlegend erneuerten Nachbarschaftspolitik und einschliesslich einer gemeinsamen Entwicklungspolitik voraus, genauso wie die Einbeziehung der Prävention und damit anderer Politikbereiche wie Erziehung und Ausbildung. Im Lichte einer ganzen Reihe von Pannen in den letzten Jahren würde es den fünf Gründerstaaten von Schengen gut anstehen, wenn sie gemeinsam die Initiative für ein solches Programm ergreifen würden.

Schafft die EU-Politik es nicht, sich auf einen solchen „Gewaltritt“ zu verständigen und ihn dann auch trotz der unveränderten Zurückhaltung in den nationalen Bürokratien auch in die Tat umzusetzen, so könnte „Schengen“  nicht nur zum Sündenbock, sondern zum Totengräber der europäischen Idee werden!

Dieser Beitrag ist auf dem Debattenportal causa des Tagesspiegels erschienen: hier mehr erfahren.

Joachim Bitterlich ist Professor an der ESCP Europe, zuvor war er Deutscher Botschafter.

Bild: CC BY-SA 2.0, Source: tiegeltuf