Politik
09.07.2015

Parlamentswahlen Türkei: Auf dem Weg zur Demokratie

Ein Durchbruch auf dem langen Weg zur Demokratie

Der Ausgang der Parlamentswahlen vom 7. Juni hat den politischen Kurs der Türkei drastisch verändert. Die 13 Jahre währende Alleinherrschaft der AKP ist zu einem Ende gekommen. Die Bestrebungen des Präsidenten Erdogan, das politische System des Landes in ein Präsidialsystem umzuwandeln, sind gescheitert. Die Türkei steht nun zum ersten Mal seit fast 15 Jahren kurz davor, von einer Koalition regiert zu werden. Wie bedeutend die Wahl für beide Seiten, sowohl für die AKP als auch ihre Widersacher war, wurde durch die hohe Wahlbeteiligung von 86 Prozent deutlich. Damit hat das Wahlvolk der korrupten, antidemokratischen und unverantwortlichen Regierungsweise der AKP, die ihre Spitze in der Person Erdogan findet, eine eindeutige Absage erteilt.

Ein schwerer Schlag für die AKP

Zwar wurde die AKP auch bei dieser Wahl und zum vierten Mal in Folge wieder stärkste Kraft, doch erhielt sie mehr als neun Prozent weniger Stimmen als noch bei der letzten Parlamentswahl 2011. Das Ergebnis von knapp 41 Prozent der Stimmen reicht nicht, um die für eine Alleinregierung nötige Mindestanzahl an Parlamentssitzen zu erlangen. Die drei Oppositionsparteien kommen zusammen auf eine Mehrzahl der Sitze (292 von 550), was eine Koalitionsregierung praktisch unvermeidbar macht. Das ist ein schwerer Schlag für die AKP, die die Türkei seit ihrer Gründung im Alleingang regiert und keinerlei Erfahrungen darin hat, politische Macht zu teilen oder gar Oppositionsarbeit zu leisten.

Die HDP triumphiert

Die größte historische Symbolkraft und die bedeutendsten politischen Konsequenzen hat allerdings der Einzug der kurdischen Bewegung als politische Partei ins Parlament. Es ist das erste Mal, dass der Bewegung dieser Schritt gelingt. Sie wurde bisher durch eine sehr hohe Prozenthürde absichtlich vom Parlament und somit von der politischen Mitbestimmung ferngehalten. Diese Zehn-Prozent-Hürde war ursprünglich in den 80er Jahren von der Militärjunta eingeführt und wurde seitdem von keiner Regierung, einschließlich der AKP, gekippt. Die „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) hat diese Zehn-Prozent-Hürde nun mit einem Rekordergebnis von 13,1 Prozent übersprungen. Damit hat sie ihre Stimmen im Vergleich zu 2011 mehr als verdoppelt, als lediglich 6,4 Prozent der Wähler für die unabhängigen Kandidaten ihrer Vorgängerpartei, der BDP, stimmten. Nach Jahrzehnten des politischen Kampfes, im Zuge dessen fünf kurdische Parteien durch das türkische Verfassungsgericht verboten wurden, dutzende kurdische Offizielle und Parteimitglieder von „unbekannten Tätern“ ermordet wurden und hunderte Aktivisten für rechtmäßige politische Aktionen im Gefängnis endeten, zieht die kurdische Bewegung in das Parlament ein.

Die demokratische Bedeutung dieses Ereignisses geht allerdings weit über die reine politische Repräsentation der Kurden hinaus. Mit den Sitzen, die die HDP für sich beanspruchen kann, bildet das türkische Parlament nun den Willen des türkischen Volkes sehr viel besser ab. Denn bisher hatte die AKP ihre Alleinherrschaft, trotz ihrer Behauptung, die Mehrheit des Volkes zu repräsentieren, vor allem der Zehn-Prozent-Hürde zu verdanken. Bei den Wahlen 2002 sind ganze 46 Prozent der Stimmen verfallen, weil verschiedenste politische Parteien an der Zehn-Prozent-Hürde scheiterten. Dies ermöglichte es der AKP, mit nur 34 Prozent der Stimmen 66 Prozent der Parlamentssitze zu erhalten.

Wer ist die HDP-Wählerschaft?

Die HDP hat die höchste Prozenthürde Europas anhand der außergewöhnlich starken Unterstützung der Kurden überwunden. Dabei hat sie nicht nur Stimmen aus den traditionell kurdischen Regionen (wo sie in 14 Wahlbezirken mehr als 90 Prozent und in weiteren 15 mehr als 80 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte), sondern auch aus den großen Metropolen des Landes, vor allem aus Istanbul, für sich gewonnen. Ungefähr vier Prozent der Stimmen, die auf die HDP entfielen, kamen von islamistischen Kurden, die 2011 noch für die AKP gestimmt hatten. Viele dieser Kurden, die auch in früheren Wahlgängen zu den Wechselwählern zwischen den beiden Parteien zählten, waren aufgrund von Aussagen Erdogans, in welchen er Kurden von der türkischen Gesellschaft ausschloss, sehr verärgert. Die Weigerung der AKP, Waffen und Kämpfer in das umkämpfte Kobane zu lassen, trug ebenso zur Wut der kurdischen Wähler bei. Sie wurde als strategischer Schachzug Erdogans interpretiert, der auf eine Niederlage der syrischen Kurden gegen den Islamischen Staat (IS) abzielte. Damit ist es teilweise auch Erdogan selbst zu verdanken, dass die HDP ihre Wählerbasis in den kurdischen Regionen verbreitern und vertiefen konnte und damit unangefochten zur stärksten Partei in „Türkisch-Kurdistan“ werden konnte.

Genauso wichtig für den Erfolg der HDP waren auch die zwei Prozent der Stimmen, die von gebildeten, säkularen Türken der städtischen Mittelschicht kamen. Darunter waren viele Erstwähler, von denen die meisten unter normalen Umständen die Haupt-Oppositionspartei CHP gewählt hätten. Hier zeigte sich das lang erwartete Erbe der Proteste um den Gezi-Park von 2013. Die „Gezi-Jugend“ wählte für und mit den Kurden. Gründe dafür sind einerseits das strategische Interesse, Erdogans Alleinherrschaft unter einem präsidentiellen System zu verhindern; anderseits wollte man die „Koalition unter dem Regenbogen“ der HDP unterstützen, anhand derer die Partei ethnische und religiöse Minderheiten, sowie Frauen, Umweltschützer, Arbeiter und LGBT-Aktivisten zusammenführte. Nicht zuletzt ließen sich viele von der charismatischen Führung des HDP Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas überzeugen. Aber die Unterstützung der Gezi-Jugend macht nicht an der Wahlurne halt. In einer in der Türkei bisher beispiellosen Wahlmobilisierungskampagne wurde die Bürger-Initiative „Oy ve Ötesi“ (Wahl und darüber hinaus) gebildet, um die Stimmenauszählung in 45 Provinzen mit über 50.000 Freiwilligen zu überprüfen.

Ein Referendum über Erdogan

Nicht zuletzt war Erdogan selbst ausschlaggebend für den Ausgang der Wahl. Unwillig aus dem politischen Rampenlicht zu treten, unterstützte er offen und aktiv den Wahlkampf der AKP und verletzte dabei grob seine verfassungsrechtliche Verpflichtung zu partei-politischer Neutralität. Damit machte er die Wahl indirekt zu einer Abstimmung über seine Person. Doch mit dieser Strategie schnitt sich Erdogan gleich mehrfach ins eigene Fleisch. Sie verhalf nicht nur der HDP zur Überwindung der Prozenthürde, sondern verprellte auch Teile von Erdogans Kernanhängerschaft, die der Wahl schließlich entweder ganz fernblieben oder ihre Stimme stattdessen der nationalistischen MHP gaben. Des Weiteren trugen Erdogans gigantischer neuer Palast mit 1150 Zimmern sowie ernste Korruptionsvorwürfe gegen ihn und andere hohe AKP-Mitglieder zu dem Stimmenverlust der Partei bei. In Zeiten einer stagnierenden Wirtschaft und steigender Arbeitslosigkeit wiegen diese umso schwerer.

Momentan bleibt es noch unklar, ob diese neue Parteienkonstellation im Parlament zu einer Koalitionsregierung führt. Die größere Herausforderung für zukünftige Regierungen ist indes die Wiederherstellung einer demokratischen Ordnung, gestützt auf einen starken Rechtsstaat. Denn die langjährige Herrschaft der AKP hat tiefe Wunden in der institutionellen, politischen sowie juristischen Landschaft des Landes hinterlassen. Vor einem Monat hat jedoch eine bedeutsame Koalition aus Kurden und liberalen Türken die HDP ins Parlament gebracht und Erdogan und seiner AKP die erste Wahlniederlage beschert. Das allein ist schon ein bedeutsamer Erfolg für ein Land, das noch einen langen Weg zur Demokratie vor sich hat.

Wie geht es weiter?

In unmittelbarer Zukunft bleiben weiterhin erhebliche Unsicherheiten: Sobald President Erdogan einen Stellvertreter mit der Aufgabe der Regierungsbildung betraut hat, läuft die Frist von max. 45 Tagen. Nach Ablauf dieser Frist könnte es zu Neuwahlen kommen, mit der Hoffnung auf Seiten der AKP, dass ein erneuter Wahldurchgang ihre Mehrheit wiederherstellen könnte. Für die Demokratie, den gesellschaftlichen Frieden und die Stabilität wäre jedoch das ideale Ergebnis dieser Bestrebungen, dass eine „große Koalition“ aus AKP und CHP gebildet würde. Die Aussichten darauf hängen jedoch weitgehend von der demokratischen Reife aller politischen Akteure ab, welche angesichts der politischen Geschichte und Kultur der Türkei nach wie vor zu hinterfragen ist.

Ein Beitrag von Dilek Kurban, Marie Curie Fellow, Hertie School of Governance

Bild: CC lensnmatter, source: flickr.com