Politik
29.05.2015

Parlamentswahlen in der Türkei – die Spannung steigt

Derzeit bereitet sich die Türkei auf entscheidende Parlamentswahlen am 7. Juni vor. Dabei steht wieder der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, im Mittelpunkt des medialen Interesses. Eigentlich sollte Erdoğan bei der Wahl eine neutrale Position einnehmen, mischt sich jedoch weiterhin in die Politik des Premierministers Ahmet Davutoğlu ein und ist so Teil des Wahlkampfs. Die politische Lage in der Türkei ist komplex. Vier Themen werden bei den Wahlen eine besondere Rolle spielen: (i) Erdoğans Ambitionen, ein auf ihn zugeschnittenes Präsidialsystem zu errichten, (ii) die Ziele der pro-Kurdischen Partei HDP, (iii) die internen Zerwürfnissen in der Regierungspartei AKP und (iv) die starke Polarisierung der türkischen Gesellschaft. Schließlich stellt sich die Frage, welche Rolle die EU noch spielen kann. Denn wie so oft in den letzten Jahren ist nicht die Frage, ob die AKP diese Wahl gewinnen wird, sondern wie.

Vier kritische Aspekte der türkischen Parlamentswahlen 2015

1. Erdoğans Präsidialsystem

Die bevorstehenden Wahlen im Juni werden die Zukunft der Türkei für die kommenden Jahrzehnte prägen. Denn diese letzte Wahl des türkischen Wahlmarathons 2014/15 sieht das politische System in einem möglichen Umschwung von einem parlamentarischen zu einem Präsidialsystem, sollte die AKP sich die notwendige drei-fünftel Mehrheit sichern können. Während Erdoğan sich schon de facto zum alleinigen Staatsoberhaupt erklärt hat, würde diese von der AKP zu Erdoğans Gunsten entworfene Verfassungsänderung die Macht noch weiter auf ihn konzentrieren. Die wichtigste Oppositionspartei, die CHP, scheint jedoch nicht in der Lage zu sein, sich als eine für das Volk vertrauenswürdige, gar regierungsfähige Partei durchzusetzen. Somit wäre das Wahlergebnis vorprogrammiert. Der Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament, sollte sie die zum Einzug ins Parlament nötige 10%-Hürde nehmen, wird womöglich von entscheidender Bedeutung sein, um sicherzustellen, dass Erdoğans Partei die notwendigen Sitze im Parlament nicht aus eigener Kraft erreicht. Natürlich könnte der HDP-Eintritt die Verfassungsänderung auch ermöglichen, wenn die HDP dazu bereit wäre, im Austausch für die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung in der kurdischen Region, Erdoğan in seinem Präsidialgesuch zu unterstützen. Eine solche Koalition lehnt Demirtas, der Co-Vorsitzende der HDP, jedoch vehement ab.

2. Kurdische Ambitionen

Die 10%-Hürde wird somit zur „Make or Break“-Situation für die HDP. Sollte sie es schaffen, die Nische im linken Spektrum zu nutzen, die die CHP mit Hoffnung auf konservative Wähler durch einen Drift nach rechts räumt, könnte zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei eine pro-kurdische Partei ins Parlament einziehen und zugleich eine starke Verhandlungsposition erlangen. Sollte es der HDP nicht gelingen ins Parlament einzuziehen, bleibt sie natürlich weiterhin als außerparlamentarische Opposition ein Risiko für den Status quo der Türkei; dann aber auf Kosten der türkischen Demokratie und mit der Gefahr von innenpolitischen Unruhen und Auseinandersetzungen.

3. Risse in den AKP-Reihen

Die letzten Monate haben gezeigt, dass das interne Kräfteverhältnis aus dem Gleichgewicht gekommen ist: einerseits durch Erdoğans absoluten Machtanspruch und andererseits durch parteiinterne Mitwisserschaften bei Skandalen und Korruption. Allerdings zeichnet sich für Erdoğan ein Ausweg ab, durch den er sich von der wachsenden parteiinternen Opposition nach den Wahlen befreien könnte: Ein Abkommen in der AKP regelt, dass Parteimitglieder keine dritte Legislaturperiode dem Parlament angehören dürfen. So werden viele der heutigen Schwergewichte der türkischen Politik nicht länger im Parlament sitzen. Dies könnte unter anderem auch in Europa gern gesehene Pragmatiker betreffen, wie Ali Babacan und Bülent Arınç, der zuletzt mit Erdoğan aneinandergeraten ist.. Dies öffnet die Türen für einen neuen Kreis junger Erdoğan-Loyalisten, die zuvor keine Sitze im Parlament hatten und die Erdoğan hundertprozentig Folge leisten.

4. Polarisierung der Gesellschaft

Die Polarisierung der türkischen Gesellschaft ist vor diesen Wahlen so hoch wie nie. Ein Umstand, von dem Erdoğan traditionell profitiert hat, da er so seine Wählerschaft konsolidieren konnte. Dabei nutzt Erdoğan Verschwörungstheorien, wie die Einmischung fremder Mächte in die Politik, um seine autoritären Züge gegenüber der Opposition und die Beeinflussung der Justiz als Maßnahmen zur Verteidigung der Demokratie zu rechtfertigen. Doch diese Strategie hat auch ihren Preis: Sie birgt die Gefahr einer gespaltenen Gesellschaft, in der die Gräben zwischen den politischen Lagern zu tief und interne Konflikte geschürt werden. Es bleibt also abzuwarten, ob diese Strategie noch einmal Erdoğans Rezept zum Erfolg sein kann oder ob sie womöglich die türkische Gesellschaft zur Grenze ihrer Belastbarkeit führt.

Und Europa… ?

Der Wahlkampf in der Türkei ist von starkem Desinteresse am EU-Thema geprägt. Dieses ist regelrecht zu einem Unterthema der Außenpolitik degradiert worden. Auf europäischer Seite hingegen zeigt man sich umso besorgter. Jüngst forderten Vertreter der EU die HDP auf, das Risiko einer Kandidatur nicht auf sich zu nehmen, um ein Scheitern an der 10%-Hürde zu vermeiden. Ganz besonders soll auch auf potentielle Unregelmäßigkeiten während der Wahlen geachtet werden. Sollte Erdogan nach den Wahlen auf noch mehr Macht pochen können und kein Raum mehr für Pragmatik bestehen, werden die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa auf ein neues Tief sinken.

Die Umfrageergebnisse in der Türkei, berüchtigt in ihrer Unzuverlässigkeit und wie so oft mit völlig auseinanderklaffenden Ergebnissen, zeigen die AKP einmal als klaren Sieger mit 47% (ORC) und einmal mit starken Einbußen bei rund 38% der Stimmen (Gezici). Klar scheint aber zu sein, dass, während die AKP Stimmen einbüßen muss, sowohl die größte Opposition, die CHP, als auch die nationalistische MHP, einen Stimmenzuwachs erwarten können. Ob die HDP jedoch den Sprung ins Parlament schafft, daran scheiden sich die Geister.

Lisa Haferlach ist Associate Consultant bei Control Risks, davor arbeitete sie für den Istanbul Policy Centre.

Image: CC openDemocracy, source: flickr.com