Politik
04.10.2023

Deutschland braucht einen Europapakt

Bundeskanzler Olaf Scholz hat kürzlich einen neuen „Deutschland-Pakt“ für den Fortschritt des Landes vorgestellt, nachdem internationale Medienberichterstattung Deutschland aufgrund seiner schwächelnden Wirtschaft als „kranken Mann Europas“ dargestellt hatte. Doch wie Johannes Lindner und Nils Redeker feststellen, spielt Europa in der Debatte kaum eine Rolle. In diesem Op-Ed, der ursprünglich im Handelsblatt veröffentlicht wurde, erklären sie, warum Deutschland sich wieder auf den EU-Binnenmarkt konzentrieren und eine Gesamtstrategie zur Modernisierung des Landes und Europas entwickeln sollte.

Deutschland gilt wieder als kranker Mann Europas. Die Nachricht, dass Deutschland in diesem Jahr als einzige größere Industrienation der Welt in eine Rezession rutscht, hat die wirtschaftspolitische Debatte von Berlin bis München in Aufruhr versetzt. Seither diskutiert das Land über Reformagenden, Wachstumschancengesetze, Brückenstrompreise und einen neuen Deutschland-Pakt.

Kurioserweise spielt Europa in dieser Diskussion keine Rolle. In den Kommentarspalten der Zeitungen und der virtuellen Debatte stapeln sich die 10-Punkte-Pläne. Die EU sucht man darin vergebens. Die Bundesregierung möchte laut eigener Aussage vieles in der Republik erneuern. Sie schaut dabei aber vor allem auf nationale Lösungen. Zuletzt haben immerhin die deutschen Ministerpräsidentinnen und -präsidenten in europäischer Geste in Brüssel getagt. Am Ende sollte der Ausflug aber vor allem bezwecken, dass die EU-Kommissionspräsidentin mehr Spielraum für nationale Energiesubventionen gewährt.

Ein neues Wirtschaftsmodell – den europäischen Binnenmarkt nutzen

Das mag wenig überraschen. Kranke Männer neigen zum Selbstmitleid und Bauchschmerzen verleiten zur Nabelschau. Zudem gibt es hierzulande genug zu tun: Digitalisierung der Verwaltung, Investitionsstau, Bildungsprobleme, Fachkräftemangel – die Liste nationaler Probleme ist lang. Dennoch kann Deutschland nicht daraufsetzen, diese Strukturkrise in Eigenregie zu lösen. Einzelne Reformen werden nicht reichen. Von der Energie- und Industriepolitik bis hin zur Exportorientierung und dem Bürokratieabbau muss Deutschland sich fundamental neu aufstellen. Das Land braucht nicht weniger als ein neues Wachstumsmodell. Dafür ist die Bundesrepublik mehr denn je auf Europa angewiesen.

Günstige grüne Energie ist in Deutschland beispielsweise nur europäisch zu haben. Kein nationales Maßnahmenpaket wird verhindern, dass Deutschland künftig einen wachsenden Anteil seines Stroms importieren muss. Grüner Strom lässt sich in den sonnigeren Teilen Europas günstiger produzieren. Darüber hinaus braucht Deutschland Energieimporte, um die schwankende Verfügbarkeit von Erneuerbaren im nationalen Netz auszugleichen. Dazu muss grüne Energie von den Solarpanelen in Saragossa bis zu den Stahlöfen im Salzgitter fließen. Bisher fehlen der EU dafür die physischen Leitungen, die nötige Digitalisierung und das richtige Strommarktdesign. Bis 2030 müssen, nach Angaben der EU-Kommission, um die 585 Milliarden Euro investiert werden, um das zu ändern. Die deutsche Transformation hängt also auch am Ausbau der europäischen Transmission.

Auch in der Industriepolitik braucht Deutschland Europa. In der deutschen Debatte gilt die EU gerade vor allem als beihilferechtlicher Hemmschuh. Dabei wäre eine Europäisierung der Industriepolitik auch im deutschen Interesse. Die Bundesregierung hat sich zum Beispiel zuletzt ausgiebig für die heftig mit vielen Milliarden subventionierte Ansiedlung von Intel in Magdeburg gefeiert. Untergegangen ist dabei, dass die geplante Fabrik für Computerchips eng mit einem neuen Intel-Werk in Breslau zusammenarbeiten wird, in der die deutschen Halbleiter getestet und zu fertigen Prozessoren verarbeitet werden sollen. Dafür ist viel polnisches Steuergeld geflossen. Und Intel plant weitere Investitionen in Frankreich, Spanien sowie Italien. Der Erfolg des deutschen Vorzeigeprojekts wird somit maßgeblich davon abhängen, was in anderen Mitgliedsländern passiert. Darin steckt eine grundsätzlichere Lehre: Um Weltmarktführer in den Technologien der Zukunft zu werden, braucht Deutschland Arbeitsteilung und Skalierung über die gesamte EU hinweg. Das erfordert allerdings dann auch mehr industriepolitische Koordinierung und Finanzierung auf europäischer Ebene.

Deutschland darf sich auch deshalb nicht auf Kosten des Binnenmarkts gesund „wummsen“, weil es in neuem Maße auf ihn angewiesen ist. Im langen Boom der 2010er Jahre haben deutsche Exporte vor allem von chinesischer und amerikanischer Nachfrage profitiert. Jetzt befinden sich Deutschlands wichtigste Handelspartner im offenen Konflikt miteinander und investieren Unsummen, um ihre Importe durch eigene Produktion zu ersetzen. Angesichts der wachsenden geopolitschen Spannungen braucht Deutschland die EU wieder stärker als Absatzmarkt, handelspolitisches Pfund und sicheren Anker. Effektives „On-shoring“ von wichtiger Produktion oder von Vorprodukten geht nur über den Binnenmarkt. Zudem ist Deutschland auf die EU angewiesen, um sich gegen die zunehmend aggressiven Handelspraktiken beispielsweise von China selbstbewusst zu wehren und im globalen Wettrennen um neue Rohstoffe und Handelspartnerschaften attraktive Angebote an Drittstaaten machen zu können.

Freiräume für Innovationen schaffen

Bei all dem darf sich die Politik nicht in dauerhafter Subventionierung oder eskalierender Abschottung verheddern. Vielmehr muss sie Freiräume für Innovationen lassen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass Deutschland den Mehltau von den eigenen Verwaltungsstrukturen klopft. In vielen Bereichen der Wirtschaft wird Regulierung aber nun mal weitgehend in Brüssel festgelegt. Eine regulative Entrümplungsagenda ohne Europa greift daher zu kurz. Der Green Deal der EU und die digitale Transformation sind zum Beispiel mit enormer Geschwindigkeit in Gesetze gepackt worden. Das war auch gut so. Am Beispiel der Regulierung zur Nachhaltigkeit im Finanzsystem, insbesondere der Taxonomie, lässt sich aber zeigen, dass im Zusammenspiel der verschiedenen regulative Vorgaben Widersprüche und viel Bürokratie entstanden sind, die es kritisch zu überprüfen gilt. Nur so kann verhindert werden, dass einen realen wirtschaftlichen Mehrwehrt leistet und nicht nur in viele neue Formulare fließt. Und nur so kann die EU auch in der Welt wieder der globale Regelsetzer werden.

Gestaltungsverantwortung – eine Gesamtstrategie für Deutschland und Europa

Neben einem Deutschlandpakt braucht die Bundesregierung vor allem einen Europapakt. Die wichtigsten Elemente werden in Brüssel längst diskutiert. Anstatt in dieser Diskussion im Sinne Deutschlands um neue Lösungen zu ringen, sitzt die Bundesregierung zu häufig am Rand oder steht auf der Bremse, missbraucht die europäische Ebene für nationale parteipolitische Profilierung oder nuschelt neue finanzpolitische Schritte mit dem Verweis auf den deutschen Beitrag zum noch laufenden schuldenfinanzierten EU-Investitionsprogramm aus der Zeit der Pandemie weg. Das passt nicht zur Dringlichkeit der Herausforderung – weder in Deutschland noch in Europa.

Der kranke Mann Europas muss im eigenen Interesse mehr europäische Gestaltungsverantwortung übernehmen. So sollte die Bundesregierung jetzt eine Gesamtstrategie zur Modernisierung Deutschlands und Europas entwickeln und diese eng mit den anderen Mitgliedsländern – vor allem mit Frankreich – und den EU-Institutionen abstimmen. Dazu zählen neben neuen europäischen Fiskalregeln vor allem eine Vertiefungsagenda im Binnenmarkt inklusive Schritte hin zu einer europäischen Energieunion und robusteren handelspolitischen Instrumenten. Darüber hinaus braucht die EU ein größeres und flexibleres EU-Budget um finanziell handlungsfähig zu werden und neue industriepolitisch Aufgaben zu übernehmen. Schließlich muss Europa gerade in Vorbereitung auf die nächste Erweiterung jetzt grundsätzliche institutionelle Reformen angehen. Eine Gruppe deutsch-französischer Expert:innen hat dazu gerade wichtige und vor allem machbare Vorschläge vorgelegt.

Das politische Fenster dafür ist nur noch kurz geöffnet: der Europawahlkampf läuft jetzt an und eine neue Kommission wird dann im zweiten Halbjahr 2024 ihr Arbeitsprogramm festlegen. In den nächsten Monaten können daher noch Pflöcke eingehauen und Weichen gestellt werden. Anschließend werden sich die deutschen Parteien sehr bald wieder in erster Linie mit den Bundestagswahlen beschäftigen müssen. Für nationale Nabelschau ist daher keine Zeit.

 

Eine kürzere Version dieser Policy Position wurde ursprünglich als Kommentar im Handelsblatt veröffentlicht. 

Foto: CC Norbert Braun, Quelle: Unsplash