Politik
26.10.2023

Warum sich die Europäische Union erweitern und reformieren muss

Die Europäische Union muss sich erweitern, möchte sie ihre unmittelbare Nachbarschaft stabilisieren und dem Einfluss Russlands in der Region vorbeugen. In dieser Policy Position argumentiert Thu Nguyen, dass jedoch sowohl künftige Mitgliedstaaten als auch die EU für die Erweiterung bereit sein müssen. Dazu braucht es Reformen, vor allem in drei Bereichen: Rechtsstaatlichkeit, Handlungsfähigkeit und EU-Haushalt.

Dieser Text wurde am 26. Oktober 2023 auch als Gastbeitrag im Tagesspiegel Online veröffentlicht.    
 

Wenn sich die EU-Staats- und Regierungschef:innen am 26./27. Oktober treffen, geht es auch darum, den Dezember-Gipfel vorzubereiten, bei dem über die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau entschieden wird. Spätestens seit Februar 2022 ist die Erweiterung wieder europäische Priorität. Zuvor müssen aber sowohl die künftigen Mitglieder als auch die EU dafür erforderliche Voraussetzungen schaffen.

Einerseits müssen Kandidatenländer notwendige Reformen durchführen und in ihren Beitrittsvorbereitungen unterstützt werden. Anfang November wird die EU-Kommission ihr Erweiterungspaket 2023 veröffentlichen mit einer Bewertung der Fortschritte der Länder auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft.

Anderseits muss die EU sicherstellen, dass sie auch mit bis zu 37 Mitgliedern handlungsfähiger wird. Eine Erweiterung ohne vorherige Reform würde die Staatengemeinschaft an ihre institutionellen und politischen Grenzen bringen. Angesichts der Herausforderungen bei Klimawandel, Verteidigung oder Industrie wäre eine größere aber in ihrer Handlungsfähigkeit gelähmte EU fatal. Bereits mit 27 Mitgliedern stößt sie allzu oft an ihre Grenzen. Durch die zahlreichen Krisen des letzten Jahrzehnts wurstelte sie sich mehr schlecht als recht durch. Das wird mit weiteren Mitgliedern nicht besser werden.

Rechtsstaatlichkeit und EU-Werte

Bereits jetzt gibt es einige Mitgliedstaaten, die durch eine systematische Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien den Grundkonsens der EU als Rechtsgemeinschaft in Frage stellen. Die Instrumente der EU haben dies nicht verhindern können. Nun gilt es, sie zu stärken, denn das Risiko wird umso größer, je mehr und heterogener die EU-Mitglieder werden.

Rechtsstaatsbrüche gefährden die gesamte EU: Sie beruht nicht nur auf Werten wie Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Viele EU-Politiken und insbesondere der Binnenmarkt sind für das praktische Funktionieren auf ein intaktes Justizsystem in allen Mitgliedstaaten angewiesen. Was ein Mitglied, das sich nicht an diesen Grundkonsens hält, in der EU anrichten kann, zeigt sich derzeit am Beispiel Ungarns.

Handlungsfähigkeit

In einer durch immer mehr Konflikte geprägten Welt muss die EU effizient Entscheidungen treffen können, die demokratisch untermauert sind. Weder sie noch ihre Mitgliedstaaten können sich leisten, von einzelnen Ländern blockiert und in Geiselhaft genommen zu werden. Dies passiert bereits mit 27 Mitgliedern zu oft. Mit bis zu zehn zusätzlichen Ländern wird die Gefahr noch höher. Daher sollte das Vetorecht abgeschafft werden. Hier geht es nicht darum, Mitgliedstaaten bei wichtigen nationalen Interessen zu überstimmen. Auch wo schon jetzt qualifizierte Mehrheit herrscht, entscheidet der Rat meist per Konsensus. Vielmehr gilt es, dem Missbrauch durch einzelne Länder vorzubeugen.

EU-Haushalt

Die Aufnahme neuer und ärmerer Länder wird Auswirkungen auf den EU-Haushalt und die Verteilung von EU-Mitteln haben. Diese anzupassen, ohne jetzige Mitgliedstaaten zu benachteiligen oder die Finanzierung gemeinsamer europäischer Projekte zu riskieren, wird eine der größten internen Aufgaben werden. Insbesondere ein Ukrainebeitritt wird ein Neudenken der Gemeinsamen Agrarpolitik und der Kohäsionspolitik erfordern. Gleichzeitig bietet dies eine Chance zur Modernisierung des EU-Haushalts. Dazu gehört eine Neuorientierung über die grundsätzlichen EU-Ausgabenfelder sowie das Schaffen eines höheren finanziellen Spielraums, um auch auf unerwartete Krisen schnell zu reagieren.

Zwischen Erweiterung und Reform

Der Europäische Rat im Dezember wird eine Grundsatzentscheidung über die Verknüpfung von EU-Erweiterung und Reform treffen müssen. Wie diese ausfallen wird, ist unklar. Es gibt nicht nur Stimmen, die gegen EU-Erweiterung oder gegen EU-Reform sind, sondern auch solche, die gegen beides sind. Doch keiner dieser drei Wege ist ratsam: Es wäre ein Fehler, die EU nicht zu erweitern. Es wäre ein Fehler, sie nicht zu reformieren. Und es wäre insbesondere ein Fehler, sie zu erweitern, ohne sie zu reformieren.

Der EU-Reformprozess darf die Beitrittsprozesse der Kandidaten dabei nicht verzögern. Vielmehr gilt es, beide parallel zügig anzugehen. Eine von den deutschen und französischen Regierungen berufene Expert:innengruppe hat im September einen Bericht mit Vorschlägen vorgelegt. Die bevorstehenden Europawahlen im Juni 2024 bieten dafür ein ideales Zeitfenster: Ausgefochten im Wahlkampf im Frühling sollte die Frage der zukünftigen Ausgestaltung der EU im Herbst Teil des Mandats der neuen EU-Kommission werden.


Foto: CC Vincent Giersch, Quelle: Unsplash