Politik
10.08.2015

Die türkische Doppeloffensive

Die türkische Regierung, und allen voran Präsident Erdogan, haben sich in einen gewagten Konflikt an zwei Fronten manövriert: Im Namen der Anti-Terror-Bekämpfung greift das türkische Militär den Islamischen Staat (IS) und die kurdischen Milizen in Syrien und dem Irak an. Zugleich nutzt Erdogan diese Gelegenheit innenpolitisch, um die kurdische Bevölkerung und allen voran die in den Parlamentswahlen im Juni gewählte pro-kurdische HDP zu diskreditieren. Somit setzt er den Friedensprozess mit den Kurden aufs Spiel und riskiert eine erneute Eskalation im eigenen Land, um seiner Partei die Rückkehr zur parlamentarischen Mehrheit zu ermöglichen.

Ein IS-Attentat wurde lange als rote Linie gehandelt, die ein militärisches Eingreifen der Türkei in Syrien rechtfertigen würde. Ein solches Attentat wurde vor zwei Wochen in Suruc verübt. Das Selbstmordattentat hat 32 Menschen das Leben gekostet, darunter viele junge Aktivisten, die den Wiederaufbau der syrischen Grenzstadt Kobane vorantreiben wollten.

Die türkische Regierung reagiert mit einem Doppelschlag. Dieser richtet sich nicht nur gegen den IS, sondern auch gegen die kurdischen Milizen in Syrien und dem Irak. Die türkische Regierung argumentiert, dass sie hiermit lediglich gegen den Terror zweier international als terroristisch eingestuften Organisationen vorgeht. Diese Strategie findet viele Kritiker in der EU und im eigenen Land, zumal die kurdischen Milizen oft als eine der wenigen erfolgreichen Kräfte gegen den IS beschrieben werden. Die Türkei hingegen hat bislang eine unrühmliche Rolle im Kampf gegen den IS gespielt, indem sie die Terrormiliz im eigenen Land hat gewähren lassen.

Doch Erdogan und seine Partei, die AKP, versuchen intensiv, Kurden und IS zu einem Feindbild zu verschmelzen. In der Berichterstattung der regierungsnahen Presse werden die Proteste gegen das Einschreiten der Türkei etwa so dargestellt, als würden die größtenteils kurdischen Demonstranten damit den IS unterstützen. Aus Sicht der Kurden wirkt diese Berichterstattung zynisch, angesichts der großen Opfer, welche sie im Kampf gegen den IS erbracht haben.

Mit diesem Vorgehen riskiert Erdogan bewusst den ohnehin brüchigen inneren Frieden. Die AKP nutzt den Kampf gegen den IS, um auch intern härter gegen die Kurden vorzugehen. So wurden in den vergangenen Wochen mehrere hundert Personen mit vermeintlichen Verbindungen zum IS oder der PKK verhaftet.

Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die PKK Erdogan auch einen Grund für das härtere Durchgreifen gegenüber den Kurden im eigenen Land geliefert hat. Als Vergeltung für den Anschlag in Suruc ermordeten PKK-Kämpfer am 22. Juli zwei türkische Polizisten in der südtürkischen Provinz Şanlıurfa.

Die AKP nutzt diesen Kontext allerdings auch innenpolitisch, um das Vertrauen in die HDP zu untergraben. Die pro-kurdische HDP hatte bei den Wahlen im Juni erstmals die 10%-Hürde genommen. Das könnte sie dazu befähigen, an einer neuen Verfassung mitzuschreiben. Der überraschende Wahlerfolg der HDP hat auch maßgeblich zum Verlust der absoluten Mehrheit der AKP beigetragen. Dies war ein schwerer Schlag für Erdogans Partei, die seit über zehn Jahren die absolute Mehrheit innehatte. Nun verlangt Erdogan die Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten. Gegen die Doppelspitze der HDP, bestehend aus Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, wurden bereits Ermittlungen eingeleitet.

Dies ist zu bedauern, da die Kurdenpolitik in der Türkei gerade in den letzten Jahren viele Fortschritte gemacht hat. Ein Friedensprozess war vor zwei Jahren eingeleitet worden und die Waffenruhe hielt, bis es zu den Angriffen kam. Am 28. Februar waren erstmals Regierungspolitiker und Kurdenvertreter in einer gemeinsamen Pressekonferenz zusammengekommen.

Argwöhnisch betrachtet die AKP-Regierung auch die neuen Beziehungen der USA mit den Kurden, die durch die USA im Kampf gegen den IS  Unterstützung erfahren. Mit dem harten Vorgehen scheint Ankara den kurdischen Emanzipationsprozess nun aushöhlen zu wollen. Die immerwährende Angst der Türkei vor einem souveränen Kurdenstaat an ihren  südöstlichen Grenzen, also in Syrien und im Irak, und vor der möglichen Ausweitung der Bestrebungen im eigenen Land, spielt hier eine zentrale Rolle.

Das Vorgehen der AKP wirft nun alte Schatten an die Wand. Die Unruhen der letzten Tage erinnern an die 90er Jahre, als tägliche Anschläge im Konflikt zwischen der türkischen Republik und der PKK Angst im Land geschürt hatten. Genau diese Ängste scheint die AKP nun wieder heraufzubeschwören. Durch Neuwahlen, so Erdogans Kalkül, könnte die AKP ihre verlorene Mehrheit bald zurückgewinnen.

Gleichzeitig könnte ein neues Angstklima in der Türkei das Land jedoch weiter spalten. Scheitert der Friedensprozess endgültig, oder schafft die HDP bei einer möglichen Neuwahl die 10%-Hürde nicht, hätte das weitreichende Folgen. Dies würde nicht nur der AKP die Rückkehr zur absoluten Mehrheit ermöglichen, sondern könnte auch eine neue Welle der Gewalt auslösen. Die Kurden im Namen der Anti-Terror-Bekämpfung zu schwächen ist ein faustischer Pakt. Er droht die Türkei zu entzünden und die Region weiter zu destabilisieren.

Überraschend war in diesem Kontext die Unterstützung des neuen türkischen Kurses durch das Weiße Haus. Bislang bleibt starke internationale Kritik aus, weil die Türkei ein willkommener Partner im Bündnis gegen den IS ist. Auch die Reaktionen der EU sind gemischt. Einerseits ermahnte sie die Türkei, den Friedensprozess mit den Kurden nicht zu gefährden. Andererseits lobte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini in einem Telefonat mit dem türkischen Außenminister Mevlut Cavusoglu aber auch das resolutere Vorgehen der Türkei gegen den IS und andere terroristische Gruppen. Bundeskanzlerin Merkel äußerte sich bei einem Gespräch mit dem türkischen Premier Davutoglu ähnlich. Auch wenn die Doppeloffensive der Türkei in Europa auf Kritik stößt,  so scheint die Rolle der Türkei im Kampf gegen den IS wichtiger zu sein als die Kurdenfrage.

Lisa Haferlach ist Associate Consultant bei Control Risks, davor arbeitete sie für den Istanbul Policy Centre.