Politik
04.06.2018

Baustelle WWU – Stellungnahme im Europa-Ausschuss

Lucas Guttenberg beschreibt in seiner schriftlichen Stellungnahme für die Anhörung des EU-Ausschusses des Bundestags, welche Baustellen bei der Reform der Wirtschafts- und Währungsreform am dringlichsten sind und was in den einzelnen Bereichen zu tun ist.

Baustelle Wirtschafts- und Währungsunion – wo besteht Handlungsbedarf?

Die jüngsten Turbulenzen auf den europäischen Anleihemärkten im Zuge der nun gescheiterten Regierungsbildung in Italien haben einmal mehr verdeutlicht, dass die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion noch immer nicht krisenfest ist. Die Zinsaufschläge auch auf portugiesische und spanische Staatsanleihen zeigen, dass bei Marktteilnehmern weiterhin Zweifel an der Nachhaltigkeit und der Stabilität des Euro bestehen.

Das liegt auch daran, dass die letzten sechs Jahre seit dem Abflauen der Krise im Jahr 2012 nur unzureichend genutzt wurden, um den Weg zu einer stabilen Währungsunion wirklich zu Ende zu gehen. Stattdessen bleiben noch heute eine Reihe offener Baustellen, die die Währungsunion verwundbar machen und damit überhaupt erst Situationen ermöglichen, in denen die Regierungsbildung in einzelnen Mitgliedsstaaten wieder zu einer existenziellen Frage für den Euro wird.

Klar ist dabei, dass weder ein einfaches „Zurück zu Maastricht“ noch eine Flucht in eine föderale Vision hilfreiche Ratgeber sind. Stattdessen muss es nun darum gehen, pragmatische Antworten auf die offenen Fragen zu finden, in denen sich alle Mitgliedsstaaten wiederfinden können.

Baustelle 1: Die Bankenunion

Die Einigung zur Gründung der Bankenunion war das Ergebnis zweier Lehren aus der Krise: Erstens, dass Steuerzahler in Zukunft nicht mehr für Fehler des Finanzsektors haften sollen. Zweitens, dass die enge Verzahnung von Banken und Staaten die Eurozone als Ganzes in den Abgrund reißen kann. Diese Erkenntnisse haben zu einer Reihe wichtiger Reformen geführt. Erstens werden systemrelevante Banken nun nicht mehr nur national, sondern gemeinsam europäisch durch die Europäische Bankenaufsicht (SSM) beaufsichtigt und durch den Einheitlichen Abwicklungsausschuss (SRB) abgewickelt. Zweitens gelten mit Verabschiedung der Abwicklungsrichtlinie (kurz „BRRD“) nun strikte Regeln für die Beteiligung privater Gläubiger an Bankenabwicklungen.

Dieses System ist geeignet, in Zukunft Bailouts zu verhindern und ein Ende des Teufelskreises zwischen Banken und Staaten herbeizuführen. Allerdings funktioniert das nur, wenn die Regeln auch tatsächlich angewandt werden – und das nicht nur im Normal- sondern auch im systemischen Krisenfall. Andernfalls zahlen am Ende doch wieder die Steuerzahler in ungeordneten Rettungsaktionen. Dafür ist zweierlei notwendig:

Erstens muss das SRB zu jedem Zeitpunkt in der Lage sein, Banken mit dem bestmöglichen Instrumentarium abzuwickeln. Um das auch in einer großen Krise zu gewährleisten, braucht es eine Kreditlinie vom ESM an den Abwicklungsfonds als sogenannte Letztsicherung oder „backstop“. Andernfalls gehen dem SRB unter Umständen nach den ersten Abwicklungen die finanziellen Möglichkeiten aus, um Banken so abzuwickeln, dass die Risiken für die Steuerzahler minimiert werden. Damit würde das ganze System auf den Kopf gestellt. Die Letztsicherung sollte nicht erst 2024, sondern so schnell wie möglich an den Start gehen, um eine Zwischenperiode zu vermeiden, in der die Märkte die Schlagkräftigkeit des Abwicklungssystems anzweifeln könnten.

Zweitens ist eine funktionierende Absicherung der Kundeneinlagen eine zwingende Voraussetzung für ein geordnetes Abwickeln von Banken im Krisenfall. Wenn in einer Krise die Bankkunden gleichzeitig ihre Konten leeren, hilft die beste Krisenarchitektur nicht weiter. Deshalb ist das Vertrauen der europäischen Bankkunden in ihre Einlagensicherung essentiell. Die Krise hat allerdings gezeigt, dass dieses Vertrauen schwindet, wenn es Zweifel an der Solvenz einzelner Mitgliedsstaaten gibt – selbst wenn sich diese Zweifel als unbegründet herausstellen. Solche selbsterfüllenden Prophezeiungen sind extrem gefährlich für die Stabilität des Euros und können eine nachträgliche Stabilisierung über ein ESM-Programm unnötig teuer.

Für diesen Fall braucht es eine europäische Dimension der Einlagensicherung, die klarstellt, dass ein Euro in einem europäischen Bankkonto am Ende überall gleich sicher ist. Ob diese als volle europäische Einlagensicherung konstruiert würde oder als Rückversicherungssystem, ist dabei zweitrangig. In jedem Fall lassen sich in einer intelligenten Lösung die Belange gerade kleiner Banken berücksichtigen, sodass es dort nicht zu Mehrkosten kommt und sie auf bewährte Systeme nicht verzichten müssen. Notwendige Begleiterin einer gemeinsamen Einlagensicherung ist natürlich eine Reduzierung der Risiken im Bankensektor in der gesamten Eurozone auf ein nachhaltiges Niveau.

Die Bankenunion nicht zu vollenden wäre vergleichbar mit dem zwingenden Einbau von Feuermeldern in allen Häusern, nur um dann anschließend bei der Feuerwehr die Drehleiter einzusparen. Doch wenn dadurch große Häuser grundsätzlich nicht gelöscht werden können, ist auch der Rest des Viertels nicht sicher.

Baustelle 2: Die richtige Mischung aus Geld- und Fiskalpolitik

Die Mitgliedsstaaten der Eurozone haben sich bei der Bewältigung der Krise in weiten Teilen auf die Interventionen der Europäischen Zentralbank verlassen. Die Fiskalpolitik der Mitgliedsstaaten hat auf dem Weg zur derzeitigen wirtschaftlichen Erholung in allen Teilen der Eurozone wenn überhaupt  nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Dieses Ungleichgewicht zwischen Geld- und Fiskalpolitik hat nicht nur in Deutschland zu erheblichem Unmut geführt: Geldpolitik ist ein krudes Instrument, das nur für die Eurozone als Ganzes genutzt werden kann und mit nicht unwesentlichen Nebenwirkungen behaftet ist.

Die Krise hat gezeigt, dass eine umsichtige Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten im Einklang mit den europäischen Fiskalregeln eine wichtige Voraussetzung für die Stabilität der Währungsunion ist. Sie hat allerdings auch gezeigt, dass auch die beste Haushaltspolitik nicht garantiert, dass man im Krisenfall die notwendigen Mittel für eine robuste fiskalpolitische Reaktion hat: Die Angst vor dem Druck der Märkte führte in vielen Ländern der Eurozone zu einer übermäßigen fiskalischen Zurückhaltung. Das hatte zur Folge, dass die Zentralbank in die Bresche springen musste, um einen erneuten Abschwung oder gar eine Deflation in der Eurozone zu verhindern.

Diese Art von Schieflage gilt es in Zukunft zu vermeiden. Das gilt umso mehr für den Fall von regionalen, aber heftigen wirtschaftlichen Abschwüngen (sog. Asymmetrische Schocks), wenn also Mitgliedsstaaten gar nicht auf die Unterstützung der gemeinsamen Geldpolitik bauen können, sondern vollständig selbst in der Lage sein müssen, fiskalisch gegenzusteuern. Gerade große asymmetrische Schocks haben das Potential, nationale Haushaltspolitiken komplett zu überfordern und verlangen daher nach neuen Lösungen. Es gibt zwei Möglichkeiten, die Schieflage zwischen Geld- und Fiskalpolitik geradezurücken:

Erstens kann eine Versicherungslösung – wie zum Beispiel ein über die Zeit gefüllter Schlechtwetterfonds – die Mitgliedsstaaten in die Lage versetzen, im Krisenfall gefahrlos die notwendige antizyklische Fiskalpolitik zu betreiben und gleichzeitig in guten Zeiten Anreize bieten, mehr als bisher für schlechte Zeiten vorzusorgen.

Zweitens können mehr gemeinsame Ausgaben auf europäischer Ebene für europäische öffentliche Güter, die nationale Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten entlasten und so für mehr Stabilität sorgen – vor allem wenn sie mit stark konjunkturabhängigen Einnahmen finanziert werden. Solche gemeinsame Ausgaben könnten außerdem für gemeinsame europäische Investitionen verwendet werden und so die Wettbewerbsfähigkeit aller stärken. Ob solche gemeinsamen Anstrengungen im Rahmen des EU-Haushaltes oder als Budget für die Eurozone getätigt würden, ist letztlich zweitrangig. Unstrittig ist allerdings, dass sie für die Mitglieder der Eurozone eine größere makroökonomische Relevanz hätten als für die Nicht-Euroländer.

Baustelle 3: Die Krisenarchitektur

Die Krisenarchitektur der Eurozone wurde seit Beginn der Krise insbesondere mit der Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) erheblich gestärkt. In Verbindung mit dem Instrumentarium der EZB und mit den im Rahmen der Bankenunion vorgenommenen Verbesserungen der Regulierung, Aufsicht und möglichen Abwicklung von Banken verfügt die Eurozone nun über ein gutes Grundgerüst für die Bewältigung von Krisen – allerdings hängt die Effektivität dieses Grundgerüstes erheblich davon ab, ob bei der Bankenunion wie oben beschrieben die notwendigen letzten Schritte gegangen werden und ob der Mix zwischen Fiskal- und Geldpolitik nachhaltiger gestaltet wird.

Die Europäische Kommission hat nun die Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds (EWF) vorgeschlagen, der durch die Überführung des ESM in Unionsrecht entstehen würde. Dadurch würden insbesondere die Kontrollrechte des Europäischen Parlamentes und des Europäischen Rechnungshofes gestärkt und sonst eher kosmetische Änderungen am Ablauf der Programmverhandlungen vorgenommen. So würde beispielsweise der ESM-Stab eine stärkere eigene Rolle bekommen.

All diese Änderungen sind begrüßenswert, denn größere rechtliche Kohärenz und stärkere parlamentarische Kontrolle schaffen ein Mehr an Legitimität und damit Stabilität der Krisenarchitektur. Auch haben die europäischen Institutionen in acht Jahren Krisengeschichte genug Expertise aufgebaut, um nun wie im Vorschlag der Kommission vorgesehen ohne die Expertise des Internationalen Währungsfonds auszukommen. Allerdings sind diese Schritte auch nicht wirklich entscheidend für die Effektivität der Krisenbewältigung. Neben den oben beschriebenen notwendigen Schritten in den Bereichen Banken- und Fiskalunion ist vor allem ein Feld im Bereich der Krisenarchitektur weiterhin offen:

Es gibt weiterhin im Euroraum keine Regelung, die verhindern würde, dass nicht-tragfähige Schuldenlasten im Krisenfall von Banken und privaten Anlegern auf die öffentliche Hand übergehen. Wenn am Beginn eines Programms eindeutig klar ist, dass die Schulden eines Mitgliedsstaates nicht tragfähig sind, müssen diese – wie das heute schon international Standard ist – in einer Verhandlung mit den Gläubigern auf ein nachhaltiges Niveau reduziert werden.

Allerdings lässt sich eine solche Regel nicht über Nacht einführen. Wenn Märkte plötzlich gezwungen wären, Anleihen aller Eurostaaten als unsicher einzustufen, würde das zu erheblichen Turbulenzen auf den Finanzmärkten führen. Außerdem wäre eine massive Flucht in deutsche Staatsanleihen die Folge – was permanent niedrige Zinsen für Sparer in Deutschland nach sich ziehen würde. Daher müsste ein solcher Schritt von weiteren Reformen begleitet werden, die eine ständige Versorgung der Märkte mit sicheren Anleihen jenseits deutscher Bundesanleihen sicherstellen. Eine Möglichkeit dafür wäre das Begeben gemeinsamer europäischer Anleihen oder die Einführung einer Verschuldungsmöglichkeit des EU-Haushaltes.

Baustelle 4: Institutionelle Fragen

Ähnlich wie beim „Europäischen Währungsfonds“ sind die Fragen eines „Europäischen Finanzministers“ oder eines „Eurozonenparlaments“ am Ende eine Frage des Etiketts – wichtig ist nicht so sehr, was draufsteht, sondern was darin enthalten ist. Auch in der Wirtschafts- und Währungsunion sollte die institutionelle Form der sachlichen Notwendigkeit folgen: Es sind nun zunächst einmal wie oben beschrieben Entscheidungen zur inhaltlichen Ausgestaltung der WWU notwendig.

Erst in einem zweiten Schritt wird es dann um die weitere institutionelle Entwicklung der Währungsunion gehen. Dabei sollte allerdings schon jetzt mitbedacht werden, dass die Eurozone nach dem Brexit das Gros des Bruttoinlandsproduktes der Europäischen Union ausmachen wird und die Vermutung naheliegt, dass weitere Länder in Ost- und Mitteleuropa dem Euro beitreten werden. Das lässt eine Entwicklung paralleler Institutionen für die Währungsunion mittel- und langfristig fragwürdig erscheinen.

Dazu bleiben Befürworter einer stärkeren Auslagerung eurozonenspezifischer Kompetenzen aus der Kommission in andere Institutionen – wie zum Beispiel einer Verschiebung der Fiskalüberwachung in den ESM – häufig eine Antwort schuldig, warum solche Auslagerungen in den intergouvernementalen und damit in den direkt von den Mitgliedsstaaten kontrollierten Raum zu besseren Ergebnissen führen sollten. Hinzu kommt, dass die Verträge die Rolle der Unionsinstitutionen auch bei der Steuerung der Wirtschafts- und Währungsunion detailliert festschreiben und jede fundamentale Änderung hier nicht ohne Vertragsänderung darstellbar wäre.

Ausblick

Die Situation in Italien zeigt dramatisch, dass die Währungsunion weiterhin nicht so krisenfest ist, wie es die Lehren aus der letzten Krise angemahnt hätten. Deshalb ist es entscheidend, dass sich Deutschland und Frankreich unter Einbeziehung der anderen Mitgliedsstaaten schnellstmöglich auf konkrete Schritte zur weiteren Vertiefung der Währungsunion verständigen. Der Junigipfel bietet dafür weiterhin ein Fenster, auch wenn alle Zeichen darauf hindeuten, dass auch diese Chance nur unzureichend genutzt werden wird.

Dabei sollte gerade aus deutscher Sicht nicht unter der Annahme verhandelt werden, dass Wachstum und Beschäftigung sich auf Dauer hierzulande so positiv entwickeln wie in den letzten Jahren. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass auf Aufschwünge zuverlässig Abschwünge folgen und dass Bankenkrisen selten die treffen, die es gerade erwarten. Vielmehr sollten Entscheidungen über die Zukunft der Währungsunion so getroffen werden, dass sie in eine dauerhaft stabile Architektur münden, die für alle Mitgliedsstaaten in allen wirtschaftlichen Lagen funktioniert.

Bild: CC rulenumberone2, source: flickr.com