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23.01.2023

Johannes Lindner im Interview mit der Hertie-Stiftung

Der neue Co-Direktor des Jacques Delors Centres spricht über seine Ambitionen für das Centre und schätzt die anstehenden Herausforderungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa ein.

Das folgende Interview wurde zuvor auf der Webseite der Hertie-Stiftung veröffentlicht.

"Wir brauchen mehr europäische Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft."

Seit gut drei Monaten ist Dr. Johannes Lindner (48) Co-Direktor des Jacques Delors Centre (JDC) der Hertie School in Berlin und koordiniert dort die Entwicklung konkreter Ideen für eine zukunftsorientierte Europapolitik. Als Fellow des neu geschaffenen Henrik-Enderlein-Fellowship, das von der Stiftung Mercator finanziert wird, soll Johannes Lindner zudem zu EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik forschen und lehren. Zwei neue Hüte also - und eine Menge frischer Wind in Berlin. Welche Impulse der Politikwissenschaftler und Volkswirt setzen will, wie es seiner Ansicht nach um Europa steht und welche Erinnerungen ihn mit dem im Mai 2021 verstorbenen ehemaligen Präsidenten der Hertie School, Henrik Enderlein, verbinden, erzählt Johannes Lindner in unserem Interview. 

Sie haben als Abteilungsleiter bei der Europäischen Zentralbank die Beziehungen der EZB zu den EU-Institutionen koordiniert, bevor Sie zum Jacques Delors Centre kamen. Was ist für Sie der spürbarste Unterschied zwischen den beiden Organisationen?

Bei der EZB gab es nie eine Diskussion über die Frage der Relevanz dessen, was man für Präsidentin Christine Lagarde oder die anderen Vorstandsmitglieder erarbeitet hat. Die Relevanz ist einfach von Haus aus da. Beim Jacques Delors Centre müssen wir uns diese Relevanz, also das Gewicht unserer Arbeit und unserer Stimme, stärker erarbeiten. Andererseits ist bei der EZB die Freiheit geringer in der Art und Weise, wie man als Mitarbeiter selbstbestimmt eigene Positionen und Ideen umsetzen kann. Da gibt es bei einer kleineren Organisation mehr Möglichkeiten, und es ist für mich spannend zu erleben, wie viel agiler wir in den Prozessen und Inhalten auf neue Herausforderungen reagieren können. 

Das Jacques Delors Centre wurde nach dem ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission und Gründer des „modernen Europas“ benannt. Was zeichnet das JDC aus?

Das JDC hat in zweierlei Hinsicht eine besondere Konstruktion. Zum einen versuchen wir, Deutschland und die anderen Länder europapolitisch mehr zusammenzubringen. Wir arbeiten eng mit den Jacques Delors Instituten in Brüssel und Paris zusammen und haben so eine gewisse Vermittlerfunktion: wir erklären in Berlin, welche Richtung die EU nimmt, und den europäischen Partnern, wie bestimmte Positionen in Berlin zustande kommen. Darüber hinaus schlägt das JDC eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis. Wir haben einen Think Tank-Bereich, den ich leite, und einen Forschungsbereich, den Markus Jachtenfuchs leitet. Die Verbindung zwischen der wissenschaftlichen Sicht auf die Europapolitik und der Think Tank-Praxis ist sehr fruchtbar und wir werden sie in Zukunft noch stärker ausbauen.   

Welche neuen Impulse wollen Sie als Co-Direktor und Leiter des Think Tanks setzen?

Wir befinden uns in Berlin gerade in einer spannenden Zeit - in der vielzitierten „Zeitenwende“. Es geht darum, diesen Begriff noch stärker mit Leben zu füllen. Was bedeutet die „Zeitenwende“ konkret für die Europapolitik der Bundesregierung? Inwiefern kann Europa Lösungen für die neuen Herausforderungen unserer Zeit bieten? Am Jacques Delors Centre können und wollen wir eine unterstützende Rolle spielen, indem wir diese Debatte vorantreiben und Antworten anbieten.  

Gleichzeitig sind Sie an der Hertie School auch Henrik-Enderlein-Fellow, wie werden Sie beiden Hüten gerecht?

Da sehe ich nur Verbindendes. Henrik Enderlein hat den Think Tank gegründet und ihn später in die Hertie School überführt, als er deren Präsident wurde. Henrik stand, wie kaum ein anderer, für die Verbindung von Politik und Forschung. Er war ein Brückenbauer zwischen Berlin und dem Rest Europas. Ich kannte ihn seit der Studienzeit und wir waren Kollegen bei der EZB. Seine Energie und Weitsicht habe ich immer bewundert. 

Ganz konkret werde ich als Fellow an der Hertie School lehren und einen Kurs zur EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik geben. Aufbauend auch auf den Arbeiten von Henrik Enderlein, plane ich zudem selber zu forschen, wie Fiskalpolitik in der EU stärker integriert werden kann.  

Was reizt Sie an Ihrer jetzigen Position? Warum überhaupt der Wechsel von der EZB nach Berlin?

Deutschland spielt eine wichtige Rolle bei der Gestaltung europäischer Politik. Tritt Deutschland mit Gestaltungswillen auf, kann das Europa enorm voranbringen. Das war beispielsweise der Fall mit „NextGenerationEU“, dem Wiederaufbauplan der EU, der die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie entscheidend abgemildert hat. Gleichzeitig habe ich aber auch erlebt, wie es ist, wenn Deutschland auf der Bremse steht und bei Vorschlägen der Kommission oder anderer Mitgliedstaaten gegenhält. Es hat mich daher gereizt, dahin zu gehen, wo der Gestaltungswille entsteht - oder auch nicht - und das ist Berlin.

Wir leben derzeit im Krisenmodus. Welche Herausforderungen sehen Sie in Bezug auf Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa? Was sollte sich Deutschland vornehmen?

Deutschland wird sein Wirtschaftsmodell überdenken und sich strukturell neu aufstellen müssen. Wir haben zu lange die Gefahren für den Welthandel und für den Zugang zu Energie und Rohstoffen unterschätzt und damit Abhängigkeiten aufgebaut, die es anzupassen gilt. Europa und sein Binnenmarkt können hier eine wichtige Rolle spielen. Und gerade auch in den Bereichen Energiesicherheit und Klimawandel reichen nationale Lösungen nicht aus, sondern muss noch mehr europäisch gehandelt werden.  

Wie schätzen Sie die Beziehung Deutschlands zu Frankreich ein? Es heißt in letzter Zeit, die Stimmung sei getrübt und die Kommunikation nicht ideal?

Deutschland und Frankreich sind weiterhin ein ganz wichtiges Duo für Europa. Daran ändern auch vorübergehende Schwierigkeiten bei Kommunikation oder Abstimmung nichts. Wie in jeder Beziehung gibt es da Höhen und Tiefen. Aktuell geht es um sehr schwierige Themen. Es braucht deshalb Zeit und Gespräche. Aber ich bin optimistisch, dass man wieder zueinander findet und gemeinsame Lösungen erarbeitet.

Die liberale Demokratie steht unter Druck. Wie sehen Sie den Stand der Demokratie in Europa?

Um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen, müssen wir Lösungen auf europäischer Ebene finden. Diese müssen aber von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert sein. Die demokratische Legitimität der EU sollte verbessert, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die Europawahl 2024 ist für mich ganz zentral. Wir haben es bei der letzten Europawahl zwar geschafft, dass die Wahlbeteiligung nicht weiter zurückgegangen und der befürchtete Sieg populistischer Kräfte ausgeblieben ist. Ich würde mir wünschen, dass die Europawahl 2024 noch stärker eine Richtungswahl wird. Wollen wir eine Union mit effektiveren Entscheidungsprozessen und mehr Kompetenzen in den Bereichen Energie, Klima, Gesundheit und Sicherheit? Sollen wir die EU-Verträge nach über 15 Jahren dahingehend reformieren? Oder wollen wir mehr nationale Souveränität und weniger Koordination? Die Europawahl sollte zu breiten Debatten dazu führen; dann können die Bürgerinnen und Bürger wirklich mitgestalten, welche Agenda die europäische Kommission letztendlich verfolgen soll.  

Mit wem würden Sie gern mal einen Kaffee trinken, wenn Sie die Wahl hätten?

Als ich im Oktober meine neue Position in Berlin übernommen habe, habe ich einen Brief geschrieben. Er ging an Jacques Delors, der jetzt 97 Jahre alt ist. Ich habe auch ein Foto beigelegt, das 1999 gemacht wurde. Es zeigt Jacques Delors und mich. Damals war ich noch ein junger Student und habe ihn auf einer Konferenz in Bonn gehört. Ich war extra von meinem Studienort Köln wegen ihm dorthin gefahren. Als er dann später neben mir stand, habe ich einen Freund gebeten, das Foto zu machen. Dieses Bild habe ich Jacques Delors geschickt und ihm mitgeteilt, dass es eine große Ehre für mich ist, dieses Centre in Berlin zu führen, das seinen Namen trägt. Ich weiß, dass er den Brief gelesen hat. Zu einem Treffen kam es bisher noch nicht. Ich würde mich unheimlich freuen, wenn es bei meinem nächsten Paris-Besuch klappt mit einem Kaffee bei Jacques Delors.  

Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung

Johannes Lindner (left) in 1999 as a young student with Jacques Delors, who spoke on EU policy at a Friedrich Ebert Stiftung event in Bonn.