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03.11.2021

Jacques Delors bricht seine Stille

In einem Interview mit dem politischen Wochenmagazin Le Point spricht Jacques Delors über den Zustand der EU, die Erwartungen an die französische EU-Ratspräsidentschaft, die Bilanz von Angela Merkel, seine Bewunderung für Helmut Kohl und sein Bedauern zum Brexit.

Angesichts globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel und geopolitischen Machtverschiebungen ist die EU wichtiger denn je. Die Frage ist heute aber, ob der politische Wille ausreicht und die Methoden noch geeignet sind, um eine EU der 27 in die Zukunft zu führen. Die europäische Integration muss vertieft werden, ohne das Subsidiaritätsprinzip zu untergraben. Dabei wirbt Delors für sein Modell der Föderation der Nationalstaaten basierend auf dem Dreiklang aus stimulierendem Wettbewerb, stärkender Kooperation und vereinender Solidarität. Die Rechtsstaatlichkeit ist und bleibt das Fundament des europäischen Projekts und muss entschlossen verteidigt werden. Gleichzeitig muss die EU drängende Herausforderungen proaktiv angehen. Dazu zählt Delors den Kampf gegen den Klimawandel, den klimafreundlichen wirtschaftlichen Wiederaufbau, eine europäische Energiepolitik sowie graduelle Schritte in Richtung einer größeren strategischen Souveränität.

Das vollständige Interview (auf Französisch) von Jérôme Béglé, Emmanuel Berretta and Sébastien Le Fol finden Sie hier.

Sieht das heutige Europa so aus, wie sie es sich vor 25 Jahren gewünscht haben? Hat sie sich mit Blick auf das, was sie bis 1995 aufgebaut haben, gut entwickelt? 

Ja, aber nur in Teilen. Man muss hier etwas empirisch werden. Angesichts der globalen Umwälzungen, der neuen Machtverhältnisse, der neuen Akteure, die von sich reden machen, halte ich die Europäische Union mehr denn je für notwendig. Die Frage ist, ob heute der Wille dafür vorhanden und die Arbeitsmethoden noch angemessen sind. 

Man hat den Eindruck, dass Europa ein müder, abgebrühter Kontinent geworden ist, der seine Macht gegenüber den USA und China nicht sieht. Dass wir nicht sehen, was unser Platz sein soll ... 

Das ist richtig, aber es gibt doch Länder, die sich mit Europa , ohne das es keine Zukunft geben wird, solidarisch zeigen. Deswegen ruht das europäische Projekt auf dem Triptychon „Wettbewerb, Entwicklung, Solidarität“. Wenn es den nicht gibt, wenn jede Aufteilung europäischer Mittel zum Beispiel für extreme Spannungen sorgt, dann werden wir es nicht packen. 

Teilen sie die Überlegungen zu einer „europäischen Souveränität“? 

Ja, aber das wird nicht gleich machbar sein. Hier muss ich auf die Methode beharren: als ich in der Kommission war, habe ich von Zeit zu Zeit eine kleine Kommission eingesetzt, um dieses und jenes Problem zu behandeln. So haben wir erfolgreich zu Themen wie den Euro oder Erasmus gearbeitet. Die Europäische Union muss sich also unbedingt um die zentralen Themen kümmern. Was nicht oder nicht mehr möglich ist, ist mit spektakulären Ankündigungen zu arbeiten, von der mehrere Präsidentschaften exzessiv Gebrauch gemacht haben. 

Welche Themen sollte die französische Ratspräsidentschaft prioritär angehen? 

Oh, ich werde mich hüten, Ratschläge an die französische Ratspräsidentschaft zu erteilen, und ich will deren Arbeit nicht komplizierter machen. Ich weiß, dass der Präsident der Französischen Republik stark in die europäischen Angelegenheiten involviert ist. Man muss schauen, wo die Europäische Union derzeit steht, und die kritischen Probleme betrachten: den absolut dringlichen Kampf gegen den Klimawandel aufnehmen, der einen ökologischen Wiederaufbau erfordert, die hunderttausende Arbeitsplätze schaffen wird. Eine europäische Energiepolitik voranbringen, und – davon träume ich – eine richtige Sozialpolitik! Und natürlich, die Verantwortung gegenüber allem Auswärtigen, die Notwendigkeit einer gewissen Autonomie der Europäischen Union inmitten dieses Weltspektakels, in dem jeder hin- und her zerrt und versucht, von sich reden zu machen – ob es nun der Präsident der Türkei oder eines anderen Landes ist. Die Europäische Union muss sich fragen, wo sie vernünftigerweise aktiv werden kann. 

Ungarn und Polen entfernen sich von den Werten der europäischen Verträge. Die Kommission droht mit den Waffen, die ihr zur Verfügung stehen. Ist das das beste Mittel, mit Budapest und Warschau umzugehen? 

Hier werden Fragen besprochen, die an den Grundfesten der Europäischen Union rütteln, die ihre Existenz in Frage stellen. Also kann man hier nicht nachgeben. Wenn man an das Prinzip selbst eines Hauses rüttelt, das auf Rechtstaatlichkeit aufbaut, müssen unbedingt die anderen Anführer strikt bleiben. Wenn ein Regierungschef nicht mit dieser oder jener Position einverstanden ist, kann man diskutieren. Aber hier ist es meines Erachtens zu ernst. Man muss das Prinzip selbst der europäischen Unternehmung verteidigen, die auf Wettbewerb, Entwicklung und Solidarität fußt.