Policy

Zwei Jahre EU-Migrationspakt: Was bleibt vom Neustart?

Zwei Jahre nach Vorstellung des Neuen Pakts für Asyl und Migration zieht dieser Policy Brief eine Zwischenbilanz der Verhandlungen. Zwar gibt es zuletzt wieder Bewegung in den seit Jahren feststeckenden Bemühungen um eine Reform des EU-Asylsystems, doch vom angekündigten „Neustart“ ist wenig verblieben. So argumentieren die Autor:innen, dass die vorgeschlagenen Reformen und der Verweis auf einzelne Verhandlungsfortschritte zunehmend realitätsfern wirken angesichts der fortwährenden Missstände an den EU-Außengrenzen. Mit Blick auf den von Rat und Europaparlament (EP) anvisierten Abschluss der Verhandlungen bis April 2024 sollten die progressiven Kräfte in beiden Institutionen die verbleibende Zeit nutzen, um den Zugang zu einem fairen Asylverfahren und das Einhalten von Grundrechten an den EU-Außengrenzen zu zentralen Bausteinen des reformierten Asylsystems zu machen.

 

Am 23. September jährt sich die Vorstellung des sogenannten Neuen Pakts für Migration und Asyl durch die Europäische Kommission zum zweiten Mal. Die Vorschläge sollten einen Neustart in der seit Jahren umstrittenen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems einleiten. In diesem Beitrag ziehen wir eine Zwischenbilanz der Verhandlungen und stellen fest: Zwar gibt es zuletzt wieder Bewegung, doch angesichts der fortwährenden Missstände an den EU-Außengrenzen wirken die vorgeschlagenen Reformen und der Verweis auf einzelne Fortschritte zunehmend realitätsfern. Der kürzlich von Rat und Europaparlament (EP) vorgestellte Fahrplan sieht einen Abschluss der Verhandlungen bis April 2024 vor. Dieses Zeitfenster sollten die progressiven Kräfte in beiden Institutionen nutzen, um den Zugang zu einem fairen Asylverfahren und das Einhalten von Grundrechten an den EU-Außengrenzen zu zentralen Bausteinen des reformierten Asylsystems zu machen.

 

1. Unüberwindbare Konflikte und gescheiterte Reformversuche

Mit dem sogenannten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) wurden ab Ende der 1990er Jahre gesetzliche Mindeststandards für die Anerkennung, Aufnahmebedingungen und Asylverfahren von Schutzsuchenden in der EU geschaffen. Diese Standards wurden seitdem mehrfach präzisiert und erweitert. Zuletzt hat die Juncker-Kommission (2014-2019) mit der 2016 vorgestellten Agenda für Migration eine umfassende Reform des GEAS angestoßen – auch als Reaktion auf gestiegene Zahlen Schutzsuchender im Sommer 2015. Die Verhandlungen konnten bis zum Ende der Legislaturperiode jedoch nicht abgeschlossen werden.

Grund dafür sind insbesondere die sehr unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten. Ein zentraler Streitpunkt war und ist die Reformierung der Dublin-III-Verordnung und die Frage nach einer ‚fairen Verantwortungsteilung‘ innerhalb der EU. Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen, wie Griechenland, Italien, Malta, Zypern und Spanien – die sogenannten Med-5 – drängen auf eine verbindliche und gerechtere Verteilung Schutzsuchender. Aufgrund der Dublin-III-Verordnung sind sie als Ersteinreisestaaten bisher formal für die meisten Asylgesuche zuständig. Länder wie Deutschland, Frankreich, die Beneluxstaaten oder Schweden, in die ein Teil der Schutzsuchenden weiterreist, wollen diese sogenannten „secondary movements“ hingegen durch den Ausbau der Asylzuständigkeit im Ersteinreisestaat begrenzen. Weitere Staaten – insbesondere die osteuropäischen Visegrád-Staaten, aber auch Österreich und Dänemark – stehen einer verpflichtenden Umverteilung strikt entgegen und plädieren für eine sehr begrenzte Aufnahme von Schutzsuchenden in der EU sowie für Asylverfahren in Drittstaaten.

Rechtlich sind in Asylfragen zwar Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit möglich. Politisch betrachtet ist jedoch eine Einigung im Konsens erforderlich, seit eine Mehrheitsentscheidung aus dem Jahr 2015 zur verpflichtenden Verteilung Schutzsuchender aus Italien und Griechenland, eine politische Eskalation und langwierige Rechtstreite zur Folge hatte.

Ein weiterer Grund für die schleppenden Verhandlungen ist der sogenannte Paketansatz. Im Gegensatz zur Dublin-Reform erzielten die EU-Staaten und das EP als gleichberechtigte Co-Gesetzgeber bei anderen Gesetzesvorhaben zwar weitreichende Einigungen. Dies betrifft die Neufassung der Anerkennungsverordnung, der Richtline über die Aufnahmebedingungen, die Resettlementverordnung und den Ausbau des Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) (siehe Tabelle). Diese Rechtsakte wurden jedoch eingefroren. Denn insbesondere die Med-5-Staaten, aber auch das EP, bestanden darauf, alle Rechtsakte als einheitliches Paket zu verabschieden. Damit wollten die Med-5 sicherstellen, dass ihre Interessen bei der Dublin-Reform gewahrt werden, während es dem EP vor allem um die Wahrung menschenrechtlicher Standards geht.

Vor diesem Hintergrund unüberwindbarer Konflikte innerhalb der EU, ist die Stärkung des Außengrenzschutzes zum Minimalkonsens in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik geworden. Indiz dafür ist die Tatsache, dass sich die EU-Staaten unter der Juncker-Kommission lediglich auf den weiteren Ausbau der Europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX einigen konnten (siehe Tabelle). Die EU-Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre ist zudem stark geprägt von politischen Abkommen mit Nachbarstaaten – wie z.B. der Türkei und Libyen, die das Ziel verfolgen, dass weniger Schutzsuchende und andere Migrant:innen in EU-Staaten gelangen können.

 

2. Migrationspakt: Bewegung ja, Neustart nein

Mit ihrem am 23. September 2020 vorgestellten „Neuen Pakt für Asyl und Migration“ (Migrationspakt) wollte die von der Leyen-Kommission (seit Ende 2019 im Amt) den gordischen Knoten in der Asylpolitik zerschlagen. Basierend auf umfangreichen Konsultationen der EU-Mitgliedstaaten sollten die Vorschläge eine Grundlage bieten, um bei der seit Jahren stockenden Asyl-Reform endlich voranzukommen. Mit ihrer „Neustart“ Rhetorik versuchte die Kommission Optimismus zu verbreiten. Während einige der weniger kontroversen und zum Teil schon weit verhandelten Teile des 2016er Pakets übernommen wurden, ersetzt der Migrationspakt die bisherigen Vorschläge für eine „faire Verantwortungsteilung“ mit der Idee einer flexiblen Solidarität und verpflichtenden Grenzverfahren (siehe Tabelle).

Nach viel Kritik und anfänglicher Skepsis über die Umsetzbarkeit der Vorschläge, einigten sich im Juni 2021 EP und Rat zunächst auf den Ausbau von EASO zu einer Europäischen Asylagentur (EUAA), deren Mandat unter anderem in der Zusammenarbeit mit Drittstaaten ausgeweitet wurde. Auch eine schnellere und umfassende Unterstützung von EU-Mitgliedstaaten, die jedoch weithin für die Asylentscheidungen zuständig bleiben, wurde beschlossen.

Vor dem Hintergrund gescheiterter Versuche, die GEAS-Reform im Paket zu verhandeln, drängte die französische Ratspräsidentschaft Anfang dieses Jahres auf einen sogenannten graduellen Ansatz. Demzufolge sollen einzelne Gesetzestexte schrittweise und unabhängig voneinander ausverhandelt werden. Am 22. Juni, kurz vor Ende der französischen Ratspräsidentschaft, einigten sich die Mitgliedstaaten schließlich auf ein Minipaket und ein gemeinsames Verhandlungsmandat für die Screening- und Eurodac-Verordnungen. Die Eurodac-Reform soll etwa zu einer genaueren Erfassung von Asylsuchenden (statt bisher von Asylanträgen) und anderen Migrant:innen führen, mit dem Ziel, den zuständigen Mitgliedstaat eindeutiger zu bestimmten. Die Screening-Verordnung hingegen sieht u.a. eine verpflichtende fünf- bis zehntägige Vorprüfung an der EU-Außengrenze und die Einteilung in unterschiedliche Verfahren vor. Menschen aus Ländern mit einer geringeren Schutzquote sollen entweder in sogenannte Asylgrenzverfahren, oder in ein Rückkehrverfahren geleitet werden. Die Einreise kann ihnen auch gänzlich verweigert werden, sollte im Screening ein Sicherheitsrisiko festgestellt werden.

Tabelle: Übersicht Verhandlungsstand GEAS

Quelle: Zusammenstellung der Autor:innen Notiz: Der „Paketansatz“ umfasst lediglich Anerkennungsverordnung, Richtline über die Aufnahmebedingungen, Resettlement Rahmen, EU-Asylagentur, Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement, Screening- Verordnung, Asylverfahrensverordnung, Eurodac Verordnung, Verordnung für Kriseninstrument.

Die Screening-Verordnung ist mit Blick auf Grundrechte und Schutzstandards, inklusive derer, die bereits im GEAS verankert sind, in mehrerlei Hinsicht problematisch. Insbesondere würde die Verordnung eine sogenannte ‚Fiktion der Nichteinreise‘, ähnlich wie man sie von Flughafenverfahren kennt, im EU-Recht verankern: Schutzsuchende Personen sollen während des Screeningverfahrens als ‚nicht eingereist‘ gelten, obwohl sie sich de facto bereits auf europäischem Boden befinden und Recht auf eine vollständige Prüfung ihres Asylgesuchs haben . NGOs und andere Beobachter:innen befürchten dass diese Fiktion der Nichteinreise und die Umsetzung der Screening-Verfahren nicht ohne freiheitsbeschränkende bzw. -entziehende Maßnahmen im Form von systematischer Haft Schutzsuchender umzusetzen ist.

Da beide Verordnungen die Asylverantwortlichkeit der Ersteinreiseländer weiter ausbauen, wurde im Gegenzug ein Mechanismus zur Verteilung von aus Seenot geretteter Personen vereinbart. Der Solidaritätsmechanismus ist zunächst auf ein Jahr begrenzt, basiert auf Freiwilligkeit und kann nach Evaluierung der Mitgliedstaaten verlängert werden. In diesem Zeitraum sollen insgesamt 10.000 Asylsuchende verteilt werden. Allerdings ist es Mitgliedsstaaten freigestellt, ob sie sich an einer Verteilung beteiligen, oder finanzielle und logistische Unterstützung leisten. 18 EU-Staaten und drei Schengen-Mitglieder haben die Vereinbarung zum Solidaritätsmechanismus unterzeichnet. Davon haben sich 13 EU-Staaten bisher darauf verständigt, 8.000 Menschen untereinander zu verteilen. Die Vereinbarung markiert eine Verbesserung zur Situation in den Vorjahren, als aus Seenot gerettete Menschen entweder gar nicht oder nur auf ad-hoc Basis verteilt wurden. Angesichts der etwa 90.000 Menschen, die bis Mitte September auf Seerouten nach Europa gekommen sind, bleiben die in Aussicht gestellten Verteilungskontingente jedoch überschaubar und sollten nur ein erster Schritt hin zu einem umfangreicheren Verteilungsprogramm sein.

In Reaktion auf die Ratsbeschlüsse haben das EP und Vertreter:innen der rotierenden Ratspräsidentschaften aus Frankreich, Tschechien, Schweden, Spanien und Belgien am 7. September einen gemeinsamen „Fahrplan“ vorgestellt. Darin bekräftigen die Unterzeichner:innen ihr Vorhaben, die Verhandlungen über die noch offenen Rechtsakte bis Ende der Legislaturperiode im April 2024 zu Ende zu bringen und vereinbaren regelmäßige Treffen zur Bestandsaufnahme. Allerdings bleibt die Vereinbarung in vielen Punkten vage. So ist weiterhin offen, ob die gemeinsamen Verhandlungen entsprechend des graduellen oder im Sinne des Paketansatzes fortgeführt werden sollen. Zudemist ungeklärt, welche Rechtsakte als Nächstes verhandelt werden sollen. Der „Fahrplan“ ist somit ein Versuch des EP, die eigene Rolle in den Verhandlungen wieder zu stärken und den Rat dazu zu bewegen, endlich auch über die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung und die Krisenmanagement-Verordnung zu sprechen. Zudem ist der Beschluss eine Reaktion darauf, dass sich das Zeitfenster bis zum Ende der Legislaturperiode zu schließen beginnt.

Die jüngsten Kompromisse im Rat und die verklausulierte Sprache des vereinbarten Fahrplans von EP und Ratspräsidentschaften verdeutlichen einmal mehr, wie festgefahren die Verhandlungen sind. Aus dem 2016 formulierten Anspruch, ein „gerechteres System, das auf gemeinsamen Regeln und einer fairen Verantwortungsteilung beruht“ zu schaffen, ist immer mehr ein Kuhhandel geworden. Einzelne Parteien bewegen sich dabei nur noch, wenn anderswo Zugeständnisse gemacht werden. Dies entspricht teilweise der intergouvernementalen Logik der EU und ihrer Arbeitsweise als „Kompromissmaschine“. In der Praxis führt dies jedoch dazu, dass die oft geforderte „europäische Lösung“, bei der alle EU-Staaten mit gleichem Beitrag ein gemeinsames Ziel verfolgen, in immer weitere Ferne rückt. Mit dem unter der französischen EU-Ratspräsidentschaft vereinbarten temporären Solidaritätsmechanismus verstärkt sich hingegen der Eindruck, dass einzelne Bestandteile des Migrationspakts nur in kleineren Koalitionen umsetzbar sind.

 

3. Politischer Wille zum Flüchtlingsschutz fraglich

Doch selbst wenn es bis zum Ende der Legislaturperiode eine politische Einigung über die noch offenen Fragen im Rat und anschließend zwischen Rat und EP geben sollte, so ist dadurch nicht zwingend eine Verbesserung des Flüchtlingsschutzes zu erwarten. Fraglich ist insbesondere, ob die vorgeschlagenen Reformen in der Praxis auch zu einer Verbesserung der Situation an den EU-Außengrenzen beitragen können. Denn besonders dort offenbart sich die klaffende Lücke, zwischen den auf immer weitere Restriktion abzielenden Reformvorschlägen einerseits und der Dringlichkeit langfristige, grundrechtewahrende Lösungen zu finden andererseits.

Bekundungen von Kommission und Mitgliedstaaten, dass der internationale Flüchtlingsschutz und das europäische Recht eingehalten werden, stehen zahlreiche Berichte über systematische Pushbacks und die Missachtung grundlegender Rechte Schutzsuchender entgegen. Erst im Juli wurde Griechenland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erneut verurteilt. Diese Vorkommnisse sind keineswegs Einzelfälle. Kürzlich veröffentlichte Recherchen zu einem Bericht des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) zeigen, dass Pushbacks an den EU-Außengrenzen systematisch und unter Wissen der EU-Grenzschutzagentur Frontex geschehen.

Vor diesem Hintergrund verfestigt sich der Eindruck, die andauernden Reformverhandlungen stehen einer Durchsetzung bestehender Rechtsstandards eher im Wege, als dass sie diese fördern würden. Denn zu möglichen Vertragsverletzungsverfahren kommt es nicht mehr. Diese müssten entweder durch die Kommission oder einen anderen Mitgliedsstaat angestoßen werden. Allerdings argumentiert die Kommission, unter Verweis auf die noch zu verhandelnden Reformen und die damit potenziell einhergehenden Änderungen zahlreicher Rechtsakte, sei die rechtliche Basis eines solchen Verfahrens permanent in Bewegung.

Aus Sicht einiger Beobachter:innen ist die Kommission deshalb zu einer Art ‚Sekretariat des Rats‘ verkommen, dessen Vorschläge letztlich den Wünschen der Mitgliedsstaaten entsprechen, anstatt ambitionierte Forderungen auf Basis der bestehenden Rechtsordnung und das Bedarfs an Flüchtlingsschutz zu stellen. Implizit und explizit unterstützt die Kommission somit das umstrittene Vorgehen einzelner Mitgliedsstaaten, statt sie zur Einhaltung europäischen Rechts zu drängen. Die im Dezember 2021 von der Kommission auf den Weg gebrachten Vorschläge für eine Verordnung, um auf die Instrumentalisierung Schutzsuchender durch Drittstaaten zu reagieren, zielt auf eine Legalisierung der polnischen Abschottungspolitik ab. Anstatt bestehende Rechte Schutzsuchender zu stärken, macht es die Verordnung den Mitgliedstaaten leichter, bestehende Schutzgarantien auszusetzen. Gleichzeitig herrscht im Rat ein stillschweigendes Übereinkommen darüber, mangelndes Einhalten von Rechtsstandards und offene Rechtsbrüche, wie sie beispielsweise an der griechischen Grenze systematisch passieren, nicht anzuprangern. Zu groß erscheint die Sorge, mit einer direkten Konfrontation die notwendige Einstimmigkeit in den weiteren Reformverhandlungen zu gefährden.

 

4. Fazit: Verhandlungsfortschritt ist nicht gleich Erfolg

Zwei Jahre nach der Vorstellung des Neuen Pakts für Migration und Asyl ist trotz einiger Bewegung in den Verhandlungen wenig vom angekündigten Neustart übriggeblieben. Stattdessen hat das langjährige Ringen um einen Kompromiss dazu beigetragen, dass Rechtsverstöße an den EU-Außengrenzen weitestgehend ungeahndet bleiben. Insbesondere die Mitgliedstaaten scheinen nun gewillt zu sein, sich auf einen graduellen Ansatz einzulassen, was die Verabschiedung von Rechtsakten erleichtern würde. Die jüngsten Beschlüsse über einen temporären Solidaritätsmechanismus deuten derweil darauf hin, dass es bei den zentralen Streitpunkten – wie der Verteilung Schutzsuchender – entsprechend dem Modell der flexiblen Solidarität nur in kleinen Gruppen vorangehen wird. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Rat und der politischen Agenda der EU-Kommission ist jedoch auch im Falle einer weitreichenden politischen Einigung nicht mit einer Verbesserung des Flüchtlingsschutzes in Europa zu rechnen. Aus diesem Grund wäre eine Reform des GEAS entsprechend der Vorschläge des Migrationspakts nicht zwangsweise als Erfolg zu werten. Weder für die Rechtsstaatlichkeit und Legitimität der EU, noch für die Situation Schutzsuchender.

Vor diesem Hintergrund bieten sich mit Blick auf die weiteren Verhandlungen zwei Optionen. Wie vom Dachverband European Council on Refugees and Exiles (ECRE) vorgeschlagen, stellt sich zunächst die Frage, ob ein Abbruch der Verhandlungen und eine dezidierte Umsetzung bestehender Rechtsnormen einer weiteren Reformierung des GEAS vorzuziehen wäre. Angesichts der berechtigten Kritik am Migrationspakt ist dieser Vorschlag nachvollziehbar. Allerdings erscheint dies eher ein Gedankenspiel, als eine tragfähige politische Strategie zu sein. Ein erneutes Scheitern der Asylreform ist zwar nicht komplett auszuschließen. Der jüngst vorgestellte Fahrplan macht allerdings deutlich, dass Rat, Kommission und EP entschlossen scheinen, zumindest Teile des Migrationspakts bis zum Ende der Legislaturperiode zu verabschieden. Vor dem Hintergrund des derzeitigen partiellen Rechtsvakuums wäre eine Komplettblockade der Reformvorschläge auch keine vielversprechende Option. Denn sollten die Verhandlungen tatsächlich scheitern, ist nicht damit zu rechnen, dass einzelne Mitgliedstaaten zur Einhaltung eben jener Grundrechte zurückkehren, die an den EU-Außengrenzen systematisch missachtet werden. Zudem würde besonders die Kommission in einem solchen Szenario an der notwendigen Glaubwürdigkeit verlieren, um ihrer Rolle als Hüterin der Verträge anschließend wieder gerecht werden zu können. Alternativ bietet der nun auf den Weg gebrachte Fahrplan einen klaren Auftrag, die Verhandlungen zeitnah zum Abschluss zu bringen. Zwar sind einzelne Bestandteile des Migrationspakts, insbesondere die Grenzverfahren, mit Risiken für den Flüchtlingsschutz behaftet. Dennoch erscheint es eine bessere Strategie, die Verhandlungen weiterzuführen und dabei das Maximum für den Flüchtlingsschutz herauszuholen. Das gilt insbesondere bei den noch zu verhandelnden Asylverfahrensverordnung und der Asyl- und Migrationsmanagementverordnung. Ob es bei den darin enthaltenen Fragen über einen flexiblen Solidaritätsmechanismus und verpflichtende Grenzverfahren zu einer Einigung kommt, wird für die zukünftige Ausgestaltung des EU-Asylsystems entscheidend sein. Deshalb sollten die progressiven Kräfte im EP und im Rat den Fahrplan nutzen, um eigene Erfolgsparameter und rote Linien für den weiteren Verlauf der Verhandlungen festzulegen. Diese sollten sich insbesondere an drei zentralen Prämissen internationaler und EU-politischer Normen orientieren:

  1. Den Zugang zu Asylverfahren und damit verbundenen Rechten für alle Schutzsuchenden zu wahren.
  2. Die Einhaltung internationalen und EU-Rechts in der gesamten EU und insbesondere an den EU-Außengrenzen durchzusetzen.
  3. Eine effektive und zeitnahe Umsetzung von Umverteilungsmechanismen innerhalb gewillter EU-Staaten zu erwirken, um zu zeigen, dass Solidarität in der Praxis funktionieren kann.

Eine wichtige Rolle bei der politischen Ausformulierung und Einforderung dieser Prämissen kommt auch der Zivilgesellschaft und den nationalen Parlamenten zu. Diese haben zwar kein direktes Mitspracherecht. Sie können jedoch Druck auf nationale Regierungen ausüben. Dies gilt in besonderem Maße für die Bundesrepublik. Die Ampelkoalition hat in ihrer Koalitionsvereinbarung einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik angekündigt, der explizit eine humanere und rechtebasierte EU-Asylpolitik einschließt. Mit dem nun verabschiedeten Fahrplan haben EP und Rat die Reform der europäischen Asylpolitik wieder zur Priorität für die kommenden Monate erklärt. Damit bietet sich für die Bundesregierung eine Chance, das von Kanzler Scholz in seiner europäischen Grundsatzrede eingeforderte „solidarische und krisenfeste“ Asylsystem endlich umzusetzen.

In seiner Rede sprach Scholz auch davon, dass die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge ein Zeichen für die vorhandene Handlungsfähigkeit der europäischen Asylpolitik sei. Die Aktvierung der Richtline zum vorrübergehenden Schutz am 4. März 2022 und die zumeist geräuschlose Aufnahme der Schutzsuchenden aus der Ukraine zeigen, dass die EU – anders als oftmals behauptet – durchaus in der Lage ist, mit einer großen Fluchtbewegung zurechtzukommen. Für den weiteren Verlauf der Verhandlungen über den Migrationspakt sollten sich die Mitgliedstaaten deshalb vergegenwärtigen, welche Vorteile eine humane und geregelte Flüchtlingsaufnahme für eine stabile und langfristige funktionierende europäische Asylpolitik hat.

Hinweis: Neben den verlinkten Quellen basiert dieser Text auch auf Gesprächen mit Vertreter:innen zentraler europäischer Institutionen, an denen die Autor:innen im Rahmen eines Dialogprogramms der Friedrich-Ebert-Stiftung im Juni 2022 in Brüssel teilgenommen haben.

Dieses Policy Brief wurde auch auf dem Refugee Law Initiative Blog und dem Forced Migration Studies Blog veröffentlicht.