Politik
17.02.2016

Zehn Fragen und Antworten zum „Brexit-Gipfel“

Beim Treffen der Staats- und Regierungschefs am 18. und 19. Februar in Brüssel  wird die konkrete Ausgestaltung der Kompromisse ausgehandelt. Das grobe Gerüst der von Großbritannien geforderten „EU-Reformen“ steht bereits. Den Prozess hatte  David Cameron Mitte November durch einen Brief an den EU-Ratspräsidenten Donald Tusk angestoßen.  Derartige Kompromisse wurden nun in ihren Grundzügen ausgehandelt..

  • Wie und worüber wurde bisher verhandelt?

Das Dokument auf dessen Grundlage die Staats- und Regierungschefs am 18. und 19. Februar diskutieren, wurde von einem kleinen Team von Sherpas der EU-Kommission, des europäischen Rats und Großbritanniens ausgearbeitet. Es ist der Entwurf einer Ratsentscheidung, die in Kraft tritt, sobald die britische Regierung dem Generalsekretär des Rates mitgeteilt hat, dass das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben will, also nach dem britischen Referendum.

Die Verhandlungen sind in vier Themenfelder unterteilt: wirtschaftspolitische Steuerung der EU/Eurozone, Wettbewerbsfähigkeit, Souveränität und Freizügigkeit/Sozialleistungen. In allen vier Bereichen wurden europäische Kompromisse gefunden, wobei das Themenfeld „Freizügigkeit und Sozialleistungen“ das mit Abstand kontroverseste war.

  • Wird es eine friedliche Ko-Existenz der Währungen in der EU geben?

Bei der Neuverhandlung der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU und der Eurozone soll vor allem das Verhältnis der Euro-Ins und Euro-Outs zueinander klären: Inwiefern sollten Länder, die (noch) nicht den Euro eingeführt haben, an weiteren künftigen Integrationsschritten, wie zum Beispiel kürzlich an der Einführung der Bankenunion, beteiligt sein? Unter welchen Bedingungen kann die Eurozone künftig unabhängig vom Rest der EU weitere Integrationsschritte vornehmen? Der Kompromiss schreibt erst einmal grundsätzlich fest, dass Länder, die nicht Teil des Euroraums sind, nur freiwillig an weiteren Integrationsschritten teilnehmen müssen. Das entbindet sie aber nicht von der vertraglichen Verpflichtung, langfristig die Einführung des Euro anzustreben und entsprechende Politikschritte zu ergreifen, es sei denn, sie haben ein Opt-Out (wie das Vereinigte Königreich). Der Kompromiss spricht weder davon, dass der Euro die Währung der gesamten Union werden muss, noch davon, dass die EU zukünftig eine Multi-Währungs-Union sein soll. Letzteres wäre vor allem in Camerons Sinn gewesen. Stattdessen bekräftigt das Dokument noch einmal die Notwendigkeit für Nicht-Eurostaaten, Maßnahmen zu ergreifen, um die Konvergenzkriterien zu erfüllen und den Euro einzuführen. Damit wollen die Euroländer vermutlich auch verhindern, dass sich Länder wie Polen oder Tschechien mit Verweis auf die Entscheidung ganz von der Einführung des Euros zurückziehen.

  • Die EU soll wettbewerbsfähiger werden – gelingt das?

Beim Thema Wettbewerbsfähigkeit gibt es die meisten inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU, entsprechend wenig kontrovers sind daher die Verhandlungsergebnisse. Die Mitgliedstaaten der EU sollen sich verpflichten, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und den gemeinsamen Binnenmarkt zu stärken. Konkrete genannt werden unter anderem der Bürokratieabbau und die Handelspolitik.

  • Wird es eine Abkehr von der „immer engeren Union“ geben?

Teilweise, vor allem aber für Großbritannien. Das Verhandlungsdokument stellt klar, dass die Formulierung „immer engere Union“ (ever closer union), die durch die Präambel der Römischen Verträge eingeführt wurde, nicht gleichbedeutend mit weitergehender politischer Integration ist. Gleichzeitig wird bekräftigt, dass Gruppen von Mitgliedstaaten, die eine „Vision einer gemeinsamen Zukunft“ haben, sich im Rahmen der Verträge auf eine tiefere Integration einigen können. Das Vereinigte Königreich wird aber explizit ausgenommen von jeder Verpflichtung zu einer tiefergehenden politischen Integration.

  • Bekommen nationale Parlamente ein Veto-Recht über EU-Gesetzgebung?

Cameron möchte die Rolle von nationalen Parlamenten bei der EU-Gesetzgebung stärken. Dafür hatte er eine „rote Karte“ gefordert, die den nationalen Parlamenten letztendlich ein Veto über EU-Entscheidungen einräumen könnte. So weit geht der Verhandlungskompromiss nicht. Er sieht jedoch einen Mechanismus vor, der das Subsidiaritätsprinzip stärken soll. Nationale Parlamente, die mehr als 55 Prozent der Stimmen der nationalen Parlamente repräsentieren (Zweikammersysteme haben jeweils eine, Einkammersysteme zwei Stimmen), sollen künftig die Möglichkeit haben, beim Rat eine begründete Stellungnahme zu einem Gesetzgebungsprozess einzulegen, wenn sie das Prinzip der Subsidiarität verletzt sehen. Der Rat muss sich mit dieser Einlassung befassen und die Parlamente können die Ratifizierung des Gesetzes solange aussetzen. Valentin Kreilinger, Research Fellow am Jacques Delors Institut-Berlin hat allerdings erst kürzlich in der BBC darauf hingewiesen, dass dieser Mechanismus für Großbritannien auch nachteilhaft sein könnte: Zum Beispiel dann, wenn sich eine solche Parlamentsmehrheit gegen Themen stellt, die den Briten am Herzen liegen, wie etwa bei Themen, die die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der EU betreffen.

  • Darf das Vereinigte Königreich in Zukunft die Freizügigkeit von EU-Bürgern einschränken?

Ja und Nein. Die physische Freizügigkeit von Arbeitnehmern ist eine der vier Grundfreiheiten der europäischen Union. Cameron hatte in der Vergangenheit davon gesprochen, den Zuzug nach Großbritannien auf einige 10.000 EU-Bürger pro Jahr zu begrenzen. Dies wird keinesfalls möglich sein. Stattdessen ist die Rede davon, den Missbrauch der Freizügigkeit in Form von „Sozialtourismus“ einzuschränken. In Zukunft sollen Mitgliedsstaaten der EU die Möglichkeit haben, Personen Sozialleistungen zu verweigern, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit missbrauchen, um in einem anderen Mitgliedsstaat auf Staatskosten zu leben. Dies steht im Einklang mit einigen Entscheidungen des EuGHs der letzten Zeit. Die genauen Details der möglichen Verweigerung von Leistungen sind in dem Verhandlungsdokument aber nicht zu finden.

  • Werden Sozialleistungen für in Großbritannien lebende EU-Bürger gestrichen?

Bisher ist Camerons Kernforderung, EU-Bürger für vier Jahre von bestimmten Sozialleistungen auszuschließen, nicht erfüllt. Dafür soll eine Art Frühwarn-Mechanismus, der in den Medien oft als „Notbremse“ bezeichnet wird, eingeführt werden.  Mit diesem Mechanismus sollen EU-Bürger für bis zu vier Jahre von bestimmten Sozialleistungen ausgeschlossen werden, wenn „ein öffentlicher Notstand“ die sozialen Sicherungssysteme eines Landes bedrängt. Konkrete Zahlen zur Dauer dieses Instruments sind in dem Dokument der Sherpas im Moment noch ausgespart und werden in den kommenden Verhandlungen konkretisiert. Wann ein solcher Notstand eintritt, ist bewusst vage formuliert. Eine Regierung kann die Kommissionbeispielsweise dann über einen Notstand informieren, wenn Bürger aus anderen EU-Ländern in einer so großen Zahl einwandern, dass ein übermäßiger Druck auf der Daseinsvorsorge lastet. Die britische Regierung interpretiert die Formulierungen allerdings so, dass sie nach einem „Ja“ im Referendum unmittelbar in Großbritannien anwendbar wären. Das hieße, dass EU-Einwanderer, die weniger als vier Jahre im Land sind, ihre Ansprüche auf die Zuschüsse verlieren könnten. Einige ost-europäische Regierungen fordern allerdings schon, diese Kürzungen erst auf künftige EU-Arbeiter zu beziehen und derzeit im Land lebende auszusparen. Um welche Sozialleistungen genau geht es? Die EU-Kommission wird bei einem „Ja“ der Briten im Referendum durch den Europäischen Rat aufgefordert, Vorschläge zur Änderung des Sekundärrechts einzubringen. Konkret geht es um zwei Sozialleistungen, deren Auszahlung eingeschränkt oder an Bedingungen geknüpft werden soll: Kindergeld und Zuschüsse für bedürftige Geringverdiener („in-work benefits“). Wenn Kinder von EU-Bürgern nicht mit den Eltern in ein anderes EU-Land eingereist sind, sollen Kindergeldzahlungen an die Eltern in Zukunft auf das Lebenshaltungsniveau des Herkunftslandes indexiert werden. Wie das genau umgesetzt wird, ist noch unklar. Dieser Vorschlag ist vergleichsweise wenig kontrovers.

Weitaus problematischer ist die geplante Einschränkung der „in-work benefits“. Dabei handelt es sich um Zusatzleistungen für bedürftige Geringverdiener. Diese Leistungen können einmal im Jahr mit der Steuererklärung eingefordert werden und sind ein Grundstein des britischen Sozialstaats, der rein bedarfsorientiert ist und vor allem arbeitende Geringverdiener unterstützen soll.

  • Warum ist die Einschränkung von Sozialleistungen so kontrovers?

Auch Andrea Nahles will Sozialhilfe für EU-Bürger einschränken und der EuGH hat mehrfach die Einschränkung von Sozialleistungen durch nationale Regierungen bestätigt, warum ist dieser Punkt also so kontrovers? Bei allen bisherigen Entscheidungen des EuGHs und auch den Vorschlägen der Bundesarbeitsministerin immer um Sozialleistungen für Erwerbslose ging. Der Kompromiss, den die EU mit dem Vereinigten Königreich ausgehandelt hat, erwähnt aber explizit die „in-work benefits“, also Zuschüsse für bedürftige arbeitende Geringverdiener. Damit wären nicht nur arbeitslose EU-Bürger nicht mehr mit den Briten gleichgestellt, sondern auch Erwerbstätige, die Abgaben und Steuern zahlen.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat das kürzlich in einem Debattenbeitrag prägnant formuliert: „Eine in London arbeitende Deutsche wird von einer Reihe von Sozialleistungen ausgeschlossen, die ihr britischer Kollege ganz selbstverständlich erhält. Steuern zahlen beide. Gleichzeitig wäre ein in Deutschland arbeitender Brite seinem spanischen Kollegen rechtlich gleichgestellt, und beide würden dieselben Sozialleistungen erhalten wie ihre deutschen Kollegen.“ Das ist unter den EU-Regierungen und im EU-Parlament sehr viel umstrittener als die Kürzung oder Streichung von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe für EU-Bürger.

Auf die „in-work benefits“ bezieht sich der Text des Kompromisses explizit: Er ist sozusagen maßgeschneidert auf Großbritanniens Sozialstaat. Dennoch ist es denkbar, dass andere Länder schnell nachziehen könnten und Sozialleistungen für in ihrem Land arbeitende EU-Bürger begrenzen. Osteuropäische Länder fordern für ihre Zustimmung bereits, dass kein anderes Land die Möglichkeit mehr bekommen soll, Sozialleistungen für EU-Bürger einzuschränken.

Grundsätzlich gibt es übrigens keine Statistik, die beweist, dass Einwanderer dem britischen Sozialstaat wirklich übermäßig belasten, im Gegenteil: Die meisten Studien zeigen, dass das Vereinigte Königreich von der EU-Einwanderung in vielerlei Hinsicht profitiert. EU-Bürger haben öfter einen Universitätsabschluss, sind seltener arbeitslos als ihre britischen Mitbürger und haben dem Land unterm Strich zwischen 2001 und 2011 ein Plus von 20 Milliarden Pfund beschert. Die meisten EU-Bürger kommen aus Ost-Europa wegen des hohen Lohngefälles und nicht aufgrund von Sozialleistungen nach Großbritannien.  Daher ist es auch unwahrscheinlich, dass die „Notbremse“ ihr erklärtes Ziel, die Reduzierung von Zuwanderern aus der EU, erreichen hilft.

  • Ist für den Kompromiss eine Änderung der europäischen Verträge erforderlich?

Cameron hatte in der Vergangenheit mehrmals unterstrichen, dass die Neuverhandlung nur mit einer Vertragsänderung einhergehen kann. Für eine Änderung der Verträge durch ein ordentliches Vertragsänderungsverfahren nach Artikel 48 TEU wären aber in vielen Mitgliedstaaten Referenden notwendig. Das ist ein Weg, den nach den Erfahrungen der langwierigen Ratifizierung des Vertrags von Lissabon im Moment niemand gehen will. Die Regierungen der anderen Mitgliedstaaten hatten deshalb ein ordentliches Vertragsänderungsverfahren für die britischen Neuverhandlungen von vorneherein ausgeschlossen.

Aus diesem Grund wird auch der Kompromiss zwischen der EU und Großbritannien keine direkte Änderung der EU-Verträge, also des Primärrechts, zur Folge haben. Bezüglich der Einschränkung von bestimmten Sozialleistungen müssen allerdings Änderungen am Sekundärrecht der EU vorgenommen werden. Weil der europäische Rat nach Artikel 15 (1) TEU keine Gesetzgebungsgewalt hat, wird die Entscheidung ein intergouvernementaler Vertrag. Interpretationsspielraum besteht jedoch offenbar bei der genauen juristischen Verbindlichkeit des zukünftigen Kompromisses. Für Cameron ist klar, dass der Kompromiss in Form eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen der EU und Großbritannien rechtskräftig bei den UN anhängig wird. Das ist auch die Position der Rechtsabteilung des Europäischen Rats. Der in Oxford lehrende EU-Rechtsprofessor Pavlos Eleftheriadis widerspricht dieser Ansicht allerdings auf dem Verfassungsblog: Er argumentiert, dass der gegenwärtig verhandelte Kompromiss keine rechtskräftigen Verbindlichkeiten im Sinne eines EU- oder völkerrechtlichen Vertrag vorsieht. Das begründet er darin, dass die Vertragsparteien in dem Verhandlungsdokument lediglich davon sprechen, in der Zukunft eine Änderung der Verträge vorzunehmen, aber noch nicht mit der vorliegenden Entscheidung. Wird die Entscheidung des Rats aber von allen Vertragsparteien als rechtkräftig verbindlich angesehen, könnte es zwei verschiedene rechtliche Sichtweisen (die EU-Verträge und die neu ausgehandelten Bestimmungen) auf Politikfelder geben, was zu erheblicher Verwirrung  und Rechtsunsicherheit führen könnte.

  • Wie geht es nach dem Gipfel weiter?

Der Text der Sherpas sieht vor, dass der mit Großbritannien ausgehandelte Kompromiss als Ratsentscheidung in Kraft tritt, falls die Briten beim Referendum, das vermutlich im Juni 2016 stattfinden wird, mit „Ja“ stimmen. Für dieses „Ja“ wird  Cameron allerdings noch einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen. Die Reaktionen der britischen Presse auf den Verhandlungskompromiss waren zum Großteil negativ. Viele Zeitungen warfen ihm vor, nicht ambitioniert genug gewesen zu sein und noch dazu seine laschen Verhandlungsziele verfehlt zu habenEine Blitzumfrage von Sky News am Tag nach der Bekanntgabe der Verhandlungsergebnisse ergab, dass 69 Prozent der Briten den Verhandlungskompromiss für schlecht hielten. In den meisten Umfragen liefern sich „in“ und „out“ noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen, wobei die Umfragen stark divergieren. Ausschlaggebend für den Ausgang des Referendums könnte am Ende die Mobilisierungskraft von Labour unter Jeremy Corbyn sein. Der im letzten Jahr neu gewählte Labour-Anführer hat sich in den vergangenen Tagen klar gegen einen Brexit ausgesprochen. Das ist nicht selbstverständlich: Corbyn galt lange als EU-skeptisch und hat in den 70ern für einen Austritt aus der EU und 1993 gegen den Vertrag von Maastricht gestimmt. Über die Gründe des Sinneswandels wird viel spekuliert: In einem Interview hat er die potentielle Rolle der EU bei der Stärkung von Arbeitnehmerrechten hervorgehoben. Es könnte auch ein parteipolitischer Schachzug sein, darauf zu setzen, dass innere Streitigkeiten über die EU die Tories bei einem „Ja“ empfindlich schwächen würden.

Wenn es Cameron jedoch nicht gelingen sollte, den Kompromiss mit der EU als echte Reform und Gewinn für das Vereinigte Königreich zu verkaufen, besteht durchaus die Möglichkeit, dass es zu einem Brexit kommt, mit schwer abzusehenden Folgen für das Land und die ganze Union.

Dr. Valentin Kreilinger arbeitet als Visiting Fellow an der Luiss Universität, zuvor arbeitete er für das Jacques Delors Centre.

Paul-Jasper Dittrich ist Referent beim Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, zuvor arbeitete er für das Jacques Delors Centre.