Verfassungskonflikte sind ein immanentes Merkmal des EU-Rechts: Von den Grenzen des gegenseitigen Vertrauens über den Konflikt zwischen Datenschutz und nationaler Sicherheit bis hin zur Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit und der Definition der Geldpolitik scheinen sie allgegenwärtig zu sein. Unter den Bedingungen einer hohen Judicialisierung, wie sie in der Europäischen Union herrscht, müssen diese Konflikte zwangsläufig in gerichtlichen Interaktionen zwischen dem Gerichtshof und in der Regel, wenn auch nicht ausschließlich, nationalen Gerichten mit der Befugnis zur Verfassungsprüfung zum Tragen kommen. Verfassungskonflikte sind wohl so alt wie das EU-Recht selbst und lassen eine endgültige Auslegung des Grundsatzes des Vorrangs des EU-Rechts stets offen. Gleichzeitig können wir beobachten, wie sich im Laufe der Zeit unterschiedliche Dynamiken herausbilden. Dieses Kapitel in „Les rapports entre les juges constitutionnels nationaux et la CJUE/National Constitutional Judges and the CJEU” befasst sich mit einer solchen Veränderung: der defensiven Haltung des Gerichtshofs, der zunehmend Argumente auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Identität vorbringt, um auf die vermehrte Verwendung solcher Argumente durch nationale Verfassungsgerichte zu reagieren. Ana Bobić geht davon aus, dass wir eine neue Dynamik in den Reaktionen des Gerichtshofs auf Verfassungskonflikte beobachten können. Der Gerichtshof scheint die nationale Dynamik nachzuahmen, indem er sich zunehmend auf die verfassungsrechtliche Identität der EU als Schutzschild gegen Identitäts- und Ultra-vires-Argumente nationaler Gerichte beruft. Dies, so argumentiert Bobić, verleiht der EU-Verfassungsordnung einen neuartigen Charakter der Unabänderbarkeit und verändert die traditionelle Bedeutung des Grundsatzes der übertragenen Befugnisse.
Bobić, A.: “Constitutional conflict and the EU ’s new constitutional identity” In: Anastasia Iliopoulou-Penot and Francesco Martucci (eds), Les rapports entre les juges constitutionnels nationaux et la CJUE/National Constitutional Judges and the CJEU (Bruylant 2025)