Politik
19.10.2015

Syrien: warum die militärische Strategie zu kurz greift

EU-Außenpolitik stärker auf Fluchtursachen ausrichten

Monatelang hat sich die EU über die innere Dimension der Flüchtlings- und Migrationskrise gestritten. Langsam sickert die Erkenntnis durch: Man muss sich stärker den Wurzeln der Migrationsströme zuwenden. Doch bei dieser komplexen und langfristigen Aufgabe müssen die Europäer stärker an einem Strang ziehen.

Terrorbekämpfung ist nicht gleich Fluchtursachenbekämpfung

Der Syrien-Konflikt ist eine der Hauptursachen für den Flüchtlingsstrom. Lang haben die Europäer die diplomatische und militärische Führung anderen überlassen. Doch in jüngster Zeit mehren sich auch in der EU Vorschläge, militärisch in den Konflikt einzugreifen. So erklärten sich im September Frankreich und Großbritannien zu einer Beteiligung an den Luftschlägen der US-geführten Allianz gegen den Islamischen Staat in Syrien bereit. Den Schwenk in ihrer Strategie rechtfertigten sie nicht nur mit der gefährlichen regionalen Sicherheitslage und möglichen Terrorrisiken im eigenen Land, sondern auch mit dem Ziel, die Flüchtlingskrise an ihrem Ursprung anzugehen.

Doch können militärische Maßnahmen wirklich zur Eindämmung der Flüchtlingskrise beitragen? Vieles deutet darauf hin, dass eine militärische Schwächung des Islamischen Staats zur Stärkung des diktatorischen Regimes unter Baschar al-Assad beitragen wird. Dies ist auch das deklarierte Ziel der russischen Luftschläge, die sich gegen den Islamischen Staat und andere „Terrororganisationen“ richten, wozu allem Anschein nach auch moderate Rebellen gezählt werden.

Die verstärkte militärische Präsenz der Europäer in Syrien könnte somit dazu beitragen, ein neues Übel durch ein altes zu ersetzen. Denn bereits ehe der Islamische Staat seinen Vormarsch antrat, veranlasste die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen dem Assad-Regime und den Rebellen über zwei Millionen Syrer zur Flucht.

Das militärische Vorgehen gegen das stärkste Terrornetzwerk der Welt hat trotz der Risiken und Nebenwirkungen seine Rechtfertigung. Eine unmittelbare Verquickung der Ziele von Terror- und Fluchtursachenbekämpfung ist angesichts der unberechenbaren Folgen der Luftschläge jedoch unaufrichtig.

Ehrlicher – wenn auch weitaus riskanter – wäre die Errichtung militärisch abgesicherter humanitärer Schutzzonen in Syrien. Doch hierzu mangelt es nicht nur in der EU an politischem Willen. Nach den Erfahrungen in Afghanistan und im Irak sind auch die USA nicht willens, sich mit Bodentruppen zu engagieren.

Der EU bleibt der militärische Kampf gegen Schlepper und Schleuser im Mittelmeer. Doch dieser ist nach wie vor Symptombekämpfung.

Mehr Europa in „diplomatischer Großoffensive“

Nachhaltiger wäre die Stärkung der europäischen Stimme im Rahmen einer multilateralen „diplomatischen Großoffensive“. Nach Jahren der politischen Blockade gab es im September zunächst Annäherung auf dem diplomatischen Parkett. Washington, Berlin und London rückten davon ab, dass eine politische Lösung mit der sofortigen Ablösung Assads einhergehen müsse. Derweil unterstrichen Moskau und Teheran ihre Bereitschaft, im Rahmen einer internationalen Kontaktgruppe über politische Lösungswege zu sprechen.

Doch die Ausweitung der russischen Luftschläge auf moderate Rebellen trübte die Aussichten auf diplomatische Annäherung. Die USA verurteilten die russischen Luftschläge aufs Schärfste und erweiterten die militärische Unterstützung der moderaten Rebellen. Die EU drückte ihre „großen Sorgen“ aus und hielt Moskau dazu an, die Luftschläge gegen die moderate Opposition umgehend einzustellen. Sie versprach überdies, die Bemühungen der UN für eine politische Lösung „mit ihrem ganzen politischen Gewicht aktiv und effizient zu unterstützen“.

Diesen Worten müssen nun Taten folgen. Die EU sollte sich aktiver für eine diplomatische Großoffensive unter Einbeziehung der USA, Russlands, des Irans, des Iraks, der Türkei und Saudi-Arabiens einsetzen. Schließlich sind die Europäer unmittelbar von den Auswirkungen des Konflikts betroffen. Überdies hat das Atom-Abkommen mit dem Iran gezeigt, wie ein umfassendes Verhandlungsformat unter EU-Vorsitz konträre internationale Positionen auf einen Nenner vereinen kann.

Die Europäer sollten nun nachdrücklich auf Washington und Moskau einwirken, um eine weitere Eskalation des Stellvertreterkriegs zu verhindern. Es ist an der Zeit innereuropäische Differenzen bezüglich der Zukunft Assads beizulegen und an einem Strang zu ziehen, um eine international einvernehmliche Exit-Strategie für den Diktator zu erarbeiten. Eine diplomatische Großoffensive ist keine Garantie für eine politische Lösung. Doch in der jetzigen Lage bleiben wenige bessere Alternativen.

Strategischere Ursachenbekämpfung

Die Bekämpfung der Ursachen von Flucht und Migration wird die EU auch über Syrien hinaus beschäftigen. Hinter dem Begriff der „Ursachenbekämpfung“ versteckt sich eine Vielzahl von Maßnahmen. Schließlich reichen die Ursachen von Konflikt und politischer Verfolgung bis hin zu Armut und Perspektivlosigkeit.

Die Ursachenbekämpfung muss sich daher als Querschnittsaufgabe durch die verschiedenen Felder der EU-Außenpolitik ziehen. Sie umfasst neben Diplomatie, Entwicklungshilfe, Sicherheits- und Klimapolitik auch eine fairere Handels- und Agrarpolitik.

Die Überarbeitung der europäischen Außen- und Sicherheitsstrategie und der Nachbarschaftspolitik bietet eine erste Chance, die Ursachenbekämpfung konkreter in einen strategischen Ansatz einzubetten. Die EU sollte diese Chance ergreifen. Denn sie darf nicht erst dann reagieren, wenn die Flüchtlinge an Ungarns Zaun rütteln.

Dieser Policy Brief ist in einer kurzen Version am 19.10.2015 im Handelsblatt als Gastbeitrag erschienen.