Forschung
15.02.2021

Umgekehrter Postfunktionalismus: Solidarität und Neuordnung während der COVID-19-Pandemie

Der Postfunktionalismus geht von einem Zielkonflikt zwischen dem funktionalen Maßstab des Regierens und dem territorialen Umfang der Gemeinschaft aus: Der funktionale Maßstab ist aus Gründen der Effizienz groß und transnational; die Gemeinschaft ist aus Gründen des sozialen Vertrauens und der kollektiven Identifikation klein und (sub-)national. COVID-19 hat diesen Kompromiss auf den Kopf gestellt: Es hat den funktionalen Maßstab im Namen der Sicherheit auf die (sub)nationale Ebene reduziert, während es die Erwartungen an die Gemeinschaft im Namen der Solidarität auf die große transnationale Ebene angehoben hat. Diese Umkehrung der Maßstäbe hat einerseits zu einer raschen Neuordnung des Binnenmarkts und des Schengen-Raums und andererseits zu einer erheblichen Verschlechterung der steuerlichen Risiko- und Lastenteilung geführt. Wir rekonstruieren die Entwicklung dieser Doppelbewegung von Januar bis August 2020, vergleichen sie mit historischen Trends im Skalen-Gemeinschafts-Kompromiss der europäischen Integration und diskutieren Implikationen für die postfunktionalistische Theorie.

Philipp Genschel & Markus Jachtenfuchs (2021). Postfunctionalism reversed: solidarity and rebordering during the COVID-19 pandemic, Journal of European Public Policy

Foto: CC Andrew Ridley, Quelle: Unsplash