Politik
09.04.2015

Polen: Euro-Beitritt als außenpolitischer Sicherheitsanker?

Ausgangslage

Die aktuellen europapolitischen Debatten in Deutschland und Polen könnten kaum unterschiedlicher sein. Während sich die deutsche Öffentlichkeit auf intime Probleme eines kleinen Mitgliedslandes fokussiert und erörtert, wie tragfähig seine Finanzen sind oder welches Staatseigentum es privatisieren soll, wird in Polen im Kontext der im Mai anstehenden Präsidentschaftswahlen über die grundsätzlichen Vor- und Nachteile der gemeinsamen Währung diskutiert.

Dabei bietet die polnische Debatte einen hierzulande eher seltenen Blick auf den Wert der Eurozone. So wird zwar wie in Deutschland detailliert und kontrovers über die wirtschaftlichen Konsequenzen der gemeinsamen Währung diskutiert. Einigkeit besteht weder darüber, wie verlässlich die neuen Krisenmechanismen sind, noch darüber, ob der polnische Bürger unterm Strich vom Euro-Beitritt mehr profitiert als er durch mögliche Preisaufschläge oder andere Kosten belastet wird.

Weitgehender Konsens herrscht allerdings in einem Punkt, der in Deutschland etwas weniger Beachtung findet: Dem Wert der Eurozone als einem außenpolitischen Sicherheitsanker.

Warum die Eurozone als ein solcher Anker angesehen wird, brachte der ehemalige Außenminister Radosław Sikorski bereits 2011 im polnischen Parlament auf den Punkt: „Als Außenminister möchte ich mit Ihnen meine politische Einschätzung teilen, ob die Mitgliedschaft in der Eurozone die Position unseres Landes stärken oder schwächen wird. Ich finde, diese Abwägung lässt sich gut mit einem amerikanischen Sprichwort zusammenfassen: ‚Wenn du nicht am Tisch sitzt, stehst du auf der Speisekarte‘.“

Somit liegt laut Sikorski der Wert der Mitgliedschaft nicht ausschließlich bei wirtschaftlichen Vorteilen, sondern ist in erster Linie außenpolitisch: Sie bietet Mitgliedsländern mehr Einfluss auf europäische und globale politische Entscheidungen und erhöht dadurch ihre Bedeutung auf dem internationalen Parkett. Darüber hinaus erhöhe sie, glaubt man Sikorski, auch die Sicherheit des Beitrittslandes. Laut dieser Sichtweise, die auch in den baltischen Staaten weit verbreitet ist, kann ein Euro-Beitritt als eine Art Absicherung gegen sicherheitspolitische Bedrohungen gesehen werden. Daher wundert es nicht, dass der polnische Präsident Bronisław Komorowski gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der Ukraine einen raschen Euro-Beitritt seines Landes ins Gespräch brachte.

Besonders jetzt, wo die Diskussion über Euro-Beitritte und -Austritte akuter wird und der grundsätzliche Wert einer Mitgliedschaft kritisch hinterfragt wird, lohnt sich ein Blick auf diese Argumentation. Welche Konsequenzen hat die Mitgliedschaft in der Eurozone für die außenpolitische Position eines Landes? Auf diese Frage werde ich im Folgenden in drei Thesen eingehen.

1. These: Mehr Einfluss auf EU-Ebene

Der Euro-Beitritt eröffnet einem Mitgliedsland Zugang zu Einflussmöglichkeiten auf drei Ebenen europäischer Politik:

  • Höchste Ebene der Staats- und Regierungschefs: durch den Euro-Gipfel. An diesem nach Bedarf, aber mindestens zweimal jährlich stattfindenden Gipfel nehmen grundsätzlich nur Vertreter der Euroländer teil. Nicht-Euroländer, die den Europäischen Fiskalpakt ratifiziert haben, dürfen einmal jährlich an Treffen zu bestimmten Themen teilnehmen. Ansonsten werden sie nur dazu gebeten, wenn dies als „sachgerecht“ eingeschätzt wird.
  • Ministerebene: durch die Eurogruppe. An Sitzungen dieses informellen und geheim tagenden Gremiums nehmen ausschließlich Finanzminister der Euroländer sowie Vertreter der Europäischen Zentralbank und EU-Kommission teil.
  • Arbeitsebene: durch die Arbeitsgruppe der Eurogruppe. Dieses mit Vertretern nationaler Finanzministerien besetzte Gremium bereitet Sitzungen der Eurogruppe und des Euro-Gipfels vor.

Einflussnahme auf diesen drei Ebenen zahlt sich für ein Mitgliedsland aus mehreren Gründen aus. Zum einen sollen sich alle genannten Gremien zwar mit Themen beschäftigen, die nur für die Eurozone relevant sind, aber die Trennung zwischen Dossiers mit und ohne Relevanz für Nicht-Euroländer ist zunehmend unscharf geworden. Beispielsweise können Initiativen im Bereich Wettbewerbsfähigkeit, Finanzmarktregulierung oder Vervollständigung des Binnenmarktes, die in exklusiven Euro-Gremien diskutiert und vorbereitet werden durchaus Relevanz für Nicht-Euroländer haben, ohne dass diese gleichberechtigt am Entscheidungsprozess teilnehmen können.

Zum anderen ist zu erwarten, dass gerade von diesen Gremien Impulse für weitere Integrationsschritte ausgehen werden. So wird im deutsch-französischen Kontext bereits heute über ein „Wirtschafts-Schengen“ diskutiert, das in den Bereichen der digitalen Wirtschaft, Energie oder Ausbildung ein gemeinsames Regelwerk, Gesetze und Institutionen vorsieht. Da solche Initiativen besonders dringend im Rahmen der Eurozone umgesetzt werden müssen, sind auch die Euro-Gremien prädestiniert für deren Übertragung auf EU-Ebene. Euro-Mitglieder haben somit die Möglichkeit, ihre Wünsche dort bereits in einem frühen Stadium einzubringen, an der Ausarbeitung von Details mitzuarbeiten sowie durch Agenda-Setting weitere Initiativen auf den Weg zu bringen.

Sicherlich können auch Nicht-Mitglieder an manchen Stellen ihre Positionen einbringen, werden aber nicht dieselben Einflussmöglichkeiten haben wie Mitglieder. Die von Polen gefürchtete Rolle eines Zaungasts im „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ wäre somit Fakt.

2. These: Mehr Einfluss auf globaler Ebene

Die Einflussmöglichkeit einzelner EU-Mitgliedsländer in Institutionen zur Steuerung der globalen Wirtschaft ist verschwindend gering. Da sich globale Herausforderungen wie Wirtschaftskrisen oder makroökonomische Ungleichgewichte ohne Beteiligung der rasant wachsenden Schwellen- und Entwicklungsländer nicht mehr lösen lassen, gewinnen diese Länder systematisch an Gewicht. Entscheidungen, die bis vor Kurzem in der europäisch dominierten G7-Gruppe abgestimmt werden konnten, werden seit 2008-2009 in der G20-Gruppe getroffen, in der EU-Länder lediglich 20% der Mitgliedschaft ausmachen. Auch im Internationalen Währungsfonds (IWF) drängen Schwellen- und Entwicklungsländer auf mehr Einfluss und konnten 2010 erreichen, dass europäische Vertreter zwei der bis dahin acht Sitze im Exekutivdirektorium aufgeben mussten

Der Euro-Beitritt ermöglicht Mitgliedsländern, sich an einer schrittweise entstehenden einheitlichen Vertretung der Eurozone in diesen Institutionen zu beteiligen, die durch Art. 138 des Lissabon-Vertrags abgedeckt wird. Durch eine einheitliche Vertretung im IWF würden Euro-Länder beispielsweise über knapp 22% der Stimmen verfügen und damit zur wichtigsten Kraft aufsteigen (sogar die USA hätten mit 16% einen kleineren Stimmenanteil). Die Schaffung einer einheitlichen Vertretung hätte auch Modellcharakter für Integration in anderen wichtigen Bereichen, darunter in der gemeinsamen Außenpolitik.

Noch ist offen, wie eine solche Vertretung der Eurozone aussehen wird. Die Vorschläge reichen von einer Koordinierung von Abstimmungen im Rahmen der Arbeitsgruppe der Eurogruppe bis hin zur Schaffung eines gemeinsamen Eurozonen-Sitzes. Die Dringlichkeit der Zusammenarbeit in diesem Bereich wird aber anerkannt. Dementsprechend hat sich Währungskommissar Pierre Moscovici verpflichtet, noch dieses Jahr einen Gesetzesentwurf vorzulegen.

3. These: Stärkerer Beistand in Krisen

Durch einen Euro-Beitritt steigt die Wahrscheinlichkeit, im Fall einer ernsten Krise wirtschaftlichen und militärischen Beistand von anderen Euro-Ländern zu erhalten. Dies lässt sich dreifach begründen.

Erstens liegt Beistand im Eigeninteresse der Euroländer, denn gravierende Probleme eines Euro-Mitglieds gefährden sowohl andere Mitglieder als auch die Eurozone als Ganzes. Auf dem Spiel stehen u.a. getätigte Direktinvestitionen, an Handelsströme gekoppelte Arbeitsplätze, Stabilität der Währung, Gefahr von kostspieligen Maßnahmen zur Rettung des Finanzsystems sowie Verlust des Vertrauens in die Eurozone mit daraus resultierenden Rückschlägen für die Konjunktur im ganzen Währungsraum. Durch die stärkere wirtschaftliche und institutionelle Verflechtung innerhalb der Eurozone ist die Dringlichkeit, einem Mitglied zu helfen und dadurch einen Zusammenbruch der heimischen Wirtschaft sowie des Währungsraums abzuwenden wesentlich höher als im Fall eines Nicht-Mitglieds.

Zweitens ist Beistand wahrscheinlicher, weil innere Probleme eines Euro-Landes zunehmend zu relevanten Themen für die Öffentlichkeit in anderen Euro-Ländern werden. Die lange herbeigesehnte „europäische Öffentlichkeit“ ist zwar nicht ganz ausgereift, aber sie ist längst da und kommt besonders in Krisen zum Vorschein. So beherrschen interne Probleme Griechenlands derzeit konsequent die mediale Debatte in Deutschland. Griechische Politiker können in deutschen Talk Shows ihre Politik erklären; griechische Haushaltspläne werden unter die Lupe genommen; griechische soziale Probleme werden beleuchtet und diskutiert. Eine vergleichbar hohe Aufmerksamkeit wäre im Fall eines Nicht-Mitglieds der Eurozone schwer vorstellbar.

Drittens ist die Eurozone in der Lage, Beistand zu leisten. Durch die Schaffung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) stehen Mitgliedern im Ernstfall Liquiditätshilfen in Höhe von mehreren hundert Milliarden Euro zur Verfügung. Auch die Europäische Zentralbank hat angekündigt, „alles Erforderliche“ zu tun, um einen Zusammenbruch des Währungsraums zu verhindern. Schließlich zeigten auch Regierungen der Eurozone ihre Bereitschaft, im Notfall mit hohen Kreditsummen zu helfen. Alle diese Maßnahmen sind umstritten, zeigen aber die grundsätzliche Fähigkeit der Eurozone, ihren Mitgliedern im Ernstfall auszuhelfen.

Diese drei Punkte treffen in erster Linie für den Fall zu, dass ein Mitglied in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät. Sie lassen sich aber auch auf den Fall einer militärischen Bedrohung ausweiten. In einer solchen Situation sind zwar in erster Linie militärische Bündnisse wie die NATO gefragt. Aber die Entscheidungen innerhalb der Bündnisse werden von Regierungen getroffen, deren Kalkül sich – nicht nur, aber auch – nach ihrem wirtschaftlichen und politischen Eigeninteresse, nach dem Druck der medialen Öffentlichkeit sowie dem Vertrauen gegenüber anderen Mitgliedsländern richten kann.

In dieser Hinsicht kann ein Euro-Beitritt auch die sicherheitspolitische Position eines Landes stärken. Es wäre nicht das einzige Element, das einen potentiellen Agressor – wie das vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse in der Ukraine gefürchtete Russland – von einem Angriff abhalten würde. Es würde aber die Wahrscheinlichkeit einer entschlossenen Reaktion auf militärische Bedrohung erhöhen und kann somit als Teil einer wirksamen Abschreckungsstrategie gesehen werden.

Fazit

Die Eurozone als außenpolitischer Sicherheitsanker ist kein Selbstläufer. So bedeutet priviligierter Zugang zu EU-Entscheidungen nicht automatisch, dass man seine Anliegen immer und in vollem Umfang durchsetzen kann. Mit der einheitlichen Vertretung in globalen Institutionen sind auch schwere Diskussionen über eine demokratisch legitimierte Übergabe nationalstaatlicher Kompetenzen an gemeinsame Gremien verbunden. Auch über die Konsequenzen der im Zuge der Eurokrise geleisteten Hilfe lässt sich streiten. Und eine Euro-Mitgliedschaft ist keine hinreichende Bedingung für militärischen Beistand.

Zugleich zeigt der polnische Blick auf die Eurozone, dass ihr Wert weit über wirtschaftliche Effizienz hinausreicht. Gerade in Zeiten, in denen der Einfluss einzelner Mitgliedsländer auf globale Entscheidungen drastisch schrumpft, bietet eine Euro-Mitgliedschaft die Möglichkeit, begrenzte nationale Kräfte zu bündeln und dadurch die effektive Souveränität und das Mitspracherecht der Mitglieder zu stärken.

Auch die Perspektive zunehmender wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Bedrohungen spricht dafür, die Eurozone neben ihrer wirtschaftlichen Funktion als Instrument zur Vermeidung und Abwehr von weltpolitischen Gefahren zu interpretieren. Schließlich bietet eine Euro-Mitgliedschaft die Möglichkeit, aus der unangenehmen Lage auf der metaphorischen Speisekarte zum EU-Mitglied der ersten Liga aufzusteigen.

Bild: CC European Council, source: flickr.com