Politik
12.11.2015

Mission quite possible: Eine flexiblere Union

In seinem Brief an den Präsidenten des Europäischen Rats drängt David Cameron unter anderem darauf, die Wettbewerbsfähigkeit der Union zu steigern. Darüber hinaus verlangt er die Entbindung Großbritanniens von dem Bekenntnis zu einer „immer engeren Union“ und er fordert eine Reihe von Garantien für Nicht-Eurostaaten. Nicole Koenig argumentiert, dass sich in diesen drei Bereichen bereits europäische Kompromisslösungen abzeichnen.

Gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit

Wenig kontrovers sind die Forderungen, die darauf abzielen, die Wettbewerbsfähigkeit der Union zu steigern. Wie der britische Premierminister betonte, hat die Europäische Kommission in den vergangenen Monaten bereits einige Initiativen in diesem Bereich auf den Weg gebracht.

Dazu gehört etwa die Handelsstrategie von Oktober 2015, in der sich die Kommission den Abschluss der Freihandelsabkommen mit den USA und Japan sowie des Investitionsabkommens mit China als Ziel setzt. Camerons Forderungen nach der Vollendung des digitalen Binnenmarkts und der Kapitalmarktunion entsprechen ebenfalls laufenden Kommissionsinitiativen. Schließlich wird der geforderte Bürokratieabbau bereits jetzt als Markenzeichen der Juncker-Kommission gehandelt.

Cameron verlangte in seinem Brief, dass sich die EU darüber hinaus mehr für die Verbesserung der Bedingungen für europäische Unternehmen einsetzen sollte, um deren Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu sichern. Trotz etwaiger Differenzen ist dies ein paneuropäisches Interesse, bei dem einvernehmliche Lösungen im Rahmen des Sekundärrechts zu erwarten sind.

Opt-Out aus der „immer engeren Union“

Etwas sensibler ist die Abkehr Großbritanniens vom Bekenntnis zu einer „immer engeren Union“. Eine Veränderung des Prinzips, das in der Präambel des Vertrags über die Europäische Union verankert ist, erfordert ein ordentliches Änderungsverfahren. Da dies oft ein langwieriges Unterfangen ist, wird es vor dem britischen Referendum nicht dazu kommen. Auch nach dem Referendum wäre die Zustimmung besonders pro-europäischer EU-Mitgliedsstaaten unwahrscheinlich.

Die Staats- und Regierungschefs kamen Großbritannien bereits im Juni 2014 entgegen, als sie in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats feststellten, „dass das Konzept einer immer engeren Union für verschiedene Länder verschiedene Wege der Integration zulässt und es denen, die die Integration vertiefen wollen, ermöglicht, weiter voranzugehen, wobei gleichzeitig die Wünsche derjenigen, die keine weitere Vertiefung möchten, zu achten sind“. Dies genügt den britischen Euroskeptikern anscheinend nicht, die die nationale Souveränität Großbritanniens gefährdet sehen.

Ein Kompromiss wäre die Aufnahme eines britischen Opt-Outs von diesem Prinzip in einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedsstaaten, der zu einem späteren Zeitpunkt als Protokoll in die EU-Verträge aufgenommen würde. Dies entspräche der sogenannten „dänischen Lösung“, die auf einem Präzedenzfall von 1992 beruht: Nach einem gescheiterten Referendum über den Maastricht-Vertrag handelte Dänemark unter Zeitdruck Opt-Outs aus, die später in Form eines Protokolls in die EU-Verträge integriert wurden.

„Notbremse“ für Nicht-Eurostaaten

Cameron spricht sich für eine Vertiefung der Eurozone aus. Im Gegenzug fordert er Garantien für die Nichtdiskriminierung der Mitgliedsstaaten außerhalb der Eurozone und die Wahrung der Integrität des Binnenmarkts. Des Weiteren will er die Anerkennung, dass es in der EU multiple Währungen gibt. Für diese allgemeineren Punkte ließen sich im Rahmen von Ratsschlussfolgerungen angemessene Formulierungen finden.

Schwieriger wird es bei einem weiteren Kernanliegen Camerons: die Einrichtung einer Schutzklausel für Nicht-Eurostaaten im Entscheidungsprozess. Bei Angelegenheiten des Binnenmarkts können die EU-Mitgliedsstaaten im Rat mit qualifizierter Mehrheit abstimmen. Hierzu bedarf es einer doppelten Mehrheit, also mindestens 55% der Staaten, die mindestens 65% der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren. Nicht-Eurostaaten sind mittlerweile überstimmt, wenn die 19 Eurostaaten geschlossen abstimmen. Die Forderung nach größerem Mitspracherecht findet somit auch bei anderen Nicht-Eurostaaten wie Polen Zuspruch.

Die Frage der Umsetzung ist jedoch noch offen. Cameron und Osborne schlugen zuletzt eine „Notbremse“ auf Basis des Ioannina-Kompromisses von 1994 vor. Im Rahmen des EU-Beitritts von Finnland, Österreich und Schweden erhöhte sich die Anzahl der Stimmen im Rat damals von 54 auf 87. Entsprechend sollte die Sperrminorität von 23 auf 26 Stimmen steigen. Einige Mitgliedsstaaten – darunter Großbritannien – fürchteten einen Einflussverlust und verlangten, dass die Sperrminorität bei 23 Stimmen bleibt. Schließlich einigten sich die EU-Außenminister bei einem informellen Treffen in der griechischen Stadt Ioannina darauf, dass eine Minderheit von 23 bis 25 Nein-Stimmen eine Entscheidung bei qualifizierter Mehrheit verzögern kann, bis es zu einem Ergebnis mit mindestens 68 Ja-Stimmen kommt.

Mittlerweise ist der Ioannina-Kompromiss in der Erklärung Nr. 7 des Lissabon-Vertrags verankert. Bis 2017 gilt, dass mindestens drei Mitgliedsstaaten oder Mitgliedsstaaten, die zusammen mehr als 26,25% der Bevölkerung vertreten, eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung verzögern können. Ab dem 1. April 2017 gilt das Gleiche für Mitgliedsstaaten, die gemeinsam mehr als 19,25% der Bevölkerung repräsentieren. Laut der Erklärung Nr. 7 soll der Rat dann „innerhalb einer angemessenen Frist“ im Rahmen der bestehenden Prozeduren alles tun, um eine „breitere Einigungsgrundlage“ herbeizuführen. Dies würde auch für Nicht-Eurostaaten gelten, wenn sie die Integrität des Binnenmarkts oder das Prinzip der Nichtdiskriminierung verletzt sehen. Beispielsweise könnten Großbritannien, Polen und die Tschechische Republik gemeinsam eine Entscheidung verzögern.

Die Formulierungen der Erklärung Nr. 7 sind allerdings recht vage. Es bleibt unklar, welche Frist angemessen und welche Einigungsgrundlage breit genug ist. Das mag auch erklären, warum der Ioannina-Mechanismus bisher kaum Anwendung fand. Eine Kompromisslösung könnte darin bestehen, die Bedingungen für die Anwendung des Mechanismus, etwa die Dauer der Verzögerung konkreter festzulegen. Denkbar wäre eine Verzögerung von drei Monaten, in denen weitere Konsultationen stattfinden und das Thema gegebenenfalls auf die Agenda des Europäischen Rats gesetzt werden kann. Eine entsprechende Vereinbarung könnte, wie 1994, zunächst im Rahmen einer verbindlichen Ratsentscheidung erfolgen. Bei einer späteren Vertragsreform könnten die Bestimmungen der Erklärung Nr. 7 entsprechend angepasst werden.

Fazit

Die Forderungen Camerons haben sich im Vergleich zu früheren Aussagen eher entschärft. In diesem Beitrag wurden drei der Anliegen beleuchtet, bei denen sich bereits Kompromisse abzeichnen. An einer gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit der Union dürfte eine größere Anzahl von Mitgliedsstaaten Interesse haben. Zu einer flexibleren Auslegung des Prinzips der „immer engeren Union“ hat sich die EU politisch bereits bekannt. Eine Ausnahmeregelung für Großbritannien im Rahmen eines rechtsverbindlichen Protokolls wäre denkbar. Weitreichender sind die geforderten Garantien für Nicht-Eurostaaten. Doch auch hier hat die Vergangenheit gezeigt, dass es in der EU kreative Wege gibt, um Minderheiten im politischen Prozess die Mitsprache zu ermöglichen.

Allerdings gibt es mindestens zwei weitere Forderungen, die noch hitzige Diskussionen entfachen dürften: Die „rote Karte“ für nationale Parlamente und die Beschneidung des Zugangs zu Sozialleistungen für Zuwanderer aus dem EU-Ausland. Ob und wie sich hier Kompromisse schließen lassen, erfahren Sie in den nächsten Blog Posts in dieser Reihe.