Politik
16.12.2015

Krisenjahr 2015: Europa in Vielfalt vereint?

Über das Spiel mit dem Feuer der letzten Monate

Die Intensität, mit der in den vergangenen Monaten Euro-Krise und Flüchtlingskrise als zwischenstaatliche Konflikte ausgetragen wurden, ist erschreckend. Diese Spannungen gehen darauf zurück, dass Europa sowohl bei der Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion als auch bei der Schaffung des Schengen-Raums „nicht ganz bis zum Ende dessen gegangen [ist], was man hätte politisch lösen müssen“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel am 25. November 2015 im Deutschen Bundestag). In den letzten Monaten ist es den EU-Mitgliedsstaaten oft schwer gefallen, derartige politische Lösungen für dringliche Probleme zu finden.

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Im Verhandlungskrimi der Euro-Krise brachte ein Papier des Bundesfinanzministeriums die Idee eines (temporären) Ausscheidens Griechenlands aus dem Euroraum direkter und konkreter als je zuvor auf den Verhandlungstisch. Ob strategischer Verhandlungszug oder ernstgemeinte Policy-Option, dem Vertrauen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten haben diese Töne zugesetzt. Zwar konnten sich die Staats- und Regierungschef des Euroraums am 13. Juli 2015 auf ein neues Hilfspaket einigen, um die akute finanzielle Notlage Griechenlands zu entschärfen, griffen die 19 Euro-Staaten dann aber zu einer Maßnahme, die sie bis dahin vermieden hatten: Sie nutzten mit dem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) ein eigentlich stillgelegtes gemeinschaftliches Notfallliquiditätsinstrument aller EU-Mitgliedsstaaten für einen kurzfristigen Überbrückungskredit an Griechenland. Obwohl Nicht-Euro-Länder gegen sämtliche Risiken abgesichert wurden, ist es damit zu einem Präzedenzfall gekommen, der auch die Beziehungen zwischen der Eurozone und dem Rest der Europäischen Union belastet: In der Debatte über den Verbleib Großbritanniens in der EU wird die Entscheidung zur Verwendung des EFSM ins Feld geführt, um Garantien für Nicht-Euro-Länder zu fordern, die auf ein Vetorecht für diese Gruppe in Fragen des gesamten EU-Binnenmarkts hinauslaufen könnten.

Flüchtlingsmanagement – notfalls ohne Konsens?

In der Flüchtlingskrise versuchten die EU-Innenminister über Wochen eine Einigung auf einen verbindlichen Mechanismus zur Umsiedlung von 160.000 Flüchtlingen zu erreichen. Spätestens Mitte September wuchs dann jedoch die Überzeugung, dass es wohl nicht zu einem Konsens kommen werde, und die Entscheidung fiel mit qualifizierter Mehrheit gegen den Willen der Slowakei, Ungarns, der Tschechischen Republik und Rumäniens. Finnland enthielt sich.

Zwar sehen die von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Verträge Mehrheitsentscheidungen vor, im Nachhinein sind jedoch starke zwischenstaatliche Spannungen aufgetreten: Die Slowakei reichte gegen den Mechanismus zur Umverteilung von Flüchtlingen eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof ein, Ungarn plant den gleichen Schritt und auch die neue polnische Regierung stellt sich gegen die Entscheidung. Anfang Dezember räumte Ratspräsident Donald Tusk ein, dass sich die qualifizierte Mehrheit in der Flüchtlings- und Asylpolitik mittel- und langfristig nicht als Zwangsmittel einsetzen lässt.

Als Reaktion auf diese Spannungen zwischen den europäischen Partnern gibt es inzwischen Überlegungen, eine neue freiwillige Regelung zur Verteilung einer großen Anzahl von Flüchtlingen aus der Türkei auf Basis einer „Koalition der Willigen“ einzurichten. Die Regierungschefs von Belgien, Deutschland, Finnland, Griechenland, den Niederlanden, Österreich und Schweden trafen sich dazu am 29. November 2015 im Vorfeld des EU-Türkei-Gipfels in Brüssel; Frankreich ist in die Initiative eingebunden. Anstelle eines solchen Ad-hoc-Vorgehens außerhalb der europäischen Verträge sollten die Mitgliedstaaten das Instrument der „Verstärkten Zusammenarbeit“ nach Artikel 20 EUV prüfen, das bereits bei der Mehrheitsentscheidung vom 22. September 2015 als Alternative bereitgestanden hätte, um einer Gruppe von mindestens neun Mitgliedstaaten weitergehende Integration in einem spezifischen Politikbereich zu ermöglichen.

Schengen – Infragestellen eines Grundpfeilers

Ähnlich besorgniserregend ist der Zustand des Schengen-Raums: Als direkte Konsequenz der Flüchtlingskrise haben eine ganze Reihe von Mitgliedstaaten temporär wieder Grenzkontrollen zu ihren Nachbarn eingeführt. Dies geschah oft nur mit kurzer Vorwarnung. Den Informations- und Begründungspflichten nach Artikel 23 ff. des Schengener Grenzkodexes wurde manchmal nur mit Verspätung Genüge geleistet. Einem Vorschlag der luxemburgischen Ratspräsidentschaft zufolge sollen Mitgliedstaaten nun die Möglichkeit erhalten, nicht nur für insgesamt maximal sechs Monate, sondern für bis zu zwei Jahre Grenzkontrollen wieder einzuführen.

Darüber hinaus gibt es Gedankenspiele über ein „Mini-Schengen“. Das hieße, dass es zwischen den meisten EU-Staaten wieder Grenzkontrollen gäbe. Das aktuelle Schengener Abkommen zwischen mittlerweile 26 Ländern wäre tot – 30 Jahre nach seiner Unterzeichnung. Griechenland steht dabei erneut im Blickpunkt und die Regierung muss sich Gerüchten entgegenstellen, dass das Land vor dem Ausschluss aus dem Schengen-Raum stehe, weil es die Schengen-Außengrenze nicht effektiv schütze.

Konsensmaschine EU – bessere Vorsätze für 2016

Dies alles zeigt, dass die „Konsensmaschine“ Europäische Union ins Stocken geraten ist – in den vergangenen sechs bis zwölf Monaten deutlicher als je zuvor. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und andere europäische Spitzenpolitiker versuchen, die Interessen der Mitgliedstaaten auszutarieren und Kompromisse zu schmieden. Das Gipfeltreffen der Staaten entlang der Westbalkan-Route ist hierfür ein Beispiel. Auf der Tagesordnung des Europäischen Rates, der am 17. und 18. Dezember 2015 wieder in Brüssel zusammentritt, stehen neben der Flüchtlingskrise auch der Kampf gegen den Terrorismus sowie mit der Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion und den Reformforderungen des britischen Premierministers David Cameron weitere für die Zukunft des Integrationsprojekts entscheidende Fragen. Die Folgen eines politisch oft kurzsichtigen Durchwurschtelns im Krisenjahr 2015 (und davor) wohl auch im kommenden Jahr zu spüren bekommen: Weder die Euro- noch die Flüchtlings- oder die Schengen-Krise sind gelöst. Zwischen den 28 Mitgliedstaaten und ihren Staats- und Regierungschefs ist die Zahl der Konfliktherde so groß wie noch nie und die offene und direkte Art der Austragung zwischenstaatlicher Meinungsverschiedenheiten ist für den Zusammenhalt der Gemeinschaft höchst riskant. Zu hoffen ist, dass das nahende Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union könnte dafür Anlass geben könnte, sich durch die Diskussion über die Grundwerte der Union auf Gemeinsamkeiten zu besinnen und die Konsensmaschine wieder zum Laufen zu bekommen.

Dr. Valentin Kreilinger arbeitete zuvor für das Jacques Delors Centre.

Dieser Beitrag wurde in verkürzter Form am 16.12.2015 von der Frankfurter Rundschau abgedruckt.

Bild: CC Isaril, Source: flickr