Politik
27.08.2024

Kein EU-Geld für Thüringen? - Die Anwendbarkeit von EU-Rechtsstaatlichkeitsmechanismen auf Regionen

Am 1. September ist Landtagswahl in Thüringen. Dort könnte die rechtsextreme AfD mit deutlichem Vorsprung stärkste Kraft werden. Deshalb wird jetzt diskutiert, wie man Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf Landesebene vor autoritären Kräften schützen kann. Auch die EU könnte hier eine Rolle spielen. Bisher hat die Kommission hauptsächlich auf Angriffe auf demokratische Institutionen auf nationaler Ebene reagiert. Aber auch regionale Regierungen müssen sich an die Grundwerte der EU halten. In einem föderalen System wie Deutschland spielen die Bundesländer außerdem eine wichtige Rolle bei der Umsetzung von Europarecht und verwalten EU-Fördergelder in Milliardenhöhe. Die Analyse zeigt am Beispiel von Thüringen, dass die meisten Rechtsstaatlichkeitsinstrumente der EU auch auf regionaler Ebene angewandt werden könnten. Dabei wäre das Zurückhalten von EU-Fördergeldern das effektivste Mittel.

Einleitung

Die europäische Demokratie steht unter Druck: Rechtspopulistische und -extreme Parteien gewinnen in ganz Europa an Zuspruch. Bereits in fast einem Drittel der EU-Mitgliedsstaaten sind sie an der Regierung beteiligt.1 Welche Folgen das für rechtsstaatliche Prinzipien haben kann, konnte man in den letzten Jahren in Ungarn, Polen und der Slowakei beobachten. Auch in Deutschland wird das zumindest auf Landesebene immer wahrscheinlicher: Die AfD, deren Thüringer Landesverband als erwiesen rechtsextremistisch vom Verfassungsschutz beobachtet wird, könnte bei der Landtagswahl am 1. September stärkste Kraft werden und mehr als 30 Prozent der Stimmen gewinnen.

Bisher hat die EU hauptsächlich auf Angriffe auf die liberale Demokratie auf nationaler Ebene reagiert. Aber auch regionale Regierungen könnten die Grundwerte der EU missachten. Zu diesen Grundwerten gehört der Schutz demokratischer Institutionen auf Landesebene wie eine unabhängige Justiz, Medien- und Wissenschaftslandschaft. Dass eine AfD-geführte Landesregierung gegen diese Prinzipien verstoßen würde, lässt sich aufgrund der Äußerungen ihrer Spitzenpolitiker jedenfalls nicht ausschließen.

Dieser Policy Brief untersucht, inwieweit die EU ihre Rechtsstaatlichkeitsinstrumente auch auf regionaler Ebene nutzen könnte. In diesem Szenario verstößt eine regionale Regierung gegen Rechtsstaatlichkeitsstandards, während die nationale Regierung das nicht tut. Diese Konstellation gab es bisher noch nicht.2 Besonders relevant ist so ein Szenario für Deutschland deshalb, weil Bundesländer in Deutschlands föderalem System unter anderem eine wichtige Rolle bei der Umsetzung von Europarecht spielen. Überall, wo europäische Gesetze in den Kompetenzbereich der Länder fallen, müssen sie von diesen umgesetzt werden. Außerdem verwalten die Bundesländer EU-Fördergelder für regionale Entwicklung in Milliardenhöhe.

Diese Analyse zeigt am Beispiel von Thüringen, dass die EU mit fast allen ihren Instrumenten auch gegen die autoritäre Regierung eines Bundeslandes vorgehen könnte. Das Zurückhalten von EU-Geldern wäre dabei das effektivste Mittel. Thüringen erhält in der aktuellen Förderperiode mehr als 1,5 Milliarden Euro aus Strukturfonds, die die Kommission einfrieren könnte. Diese Summe könnte die Thüringer Regional- und Wirtschaftsförderung empfindlich treffen und damit eine Landesregierung unter Druck setzen. Ob das politisch sinnvoll wäre, sollte das beschriebene Szenario eintreten, müsste im konkreten Fall geprüft werden. Jedenfalls hat die EU-Kommission bereits jetzt die notwendigen Instrumente, um auf Rechtsstaatlichkeitsverstöße auf regionaler Ebene zu reagieren.

Die Rechtsstaatlichkeitsinstrumente der EU

Als Reaktion auf die Versuche nationaler Regierungen demokratische Institutionen auszuhöhlen, hat die EU in den letzten Jahren eine Reihe an präventiven, korrektiven und budgetären Rechtsstaatlichkeitsinstrumenten entwickelt. Die präventiven Instrumente dokumentieren Rechtsstaatlichkeitsrisiken in Mitgliedsstaaten und sollen Gelegenheit zum Dialog bieten. Korrektive Instrumente sind mit konkrete Sanktionen für die Mitgliedsstaaten verbunden. Budgetäre Maßnahmen sollen sicherstellen, dass Gelder aus dem EU-Haushalt rechtmäßig verwendet werden. Fast alle Instrumente können prinzipiell auch auf Entwicklungen auf regionaler Ebene angewandt werden.

Präventiv: Die Rechtsstaatlichkeitsberichte der Kommission

Als einen ersten Schritt kann die EU ihre präventiven Instrumente nutzen, um Risiken für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf regionaler Ebene frühzeitig zu dokumentieren. Diese Dokumentation dient auch als objektive Grundlage zur Bewertung von Verstößen, auf die sich die Kommission bei der Anwendung der korrektiven und budgetären Mechanismen berufen kann. Zu diesen Instrumenten gehören die Rechtsstaatlichkeitsberichte3: Seit 2020 veröffentlicht die Kommission jedes Jahr im Juli Berichte über den Zustand der Demokratie in allen Mitgliedsstaaten. Die Berichte konzentrieren sich auf die Themenbereiche Justiz, Korruption, Medienfreiheit- und pluralismus und institutionelle Gewaltenteilung.

Die Rechtsstaatlichkeitsberichte zielen bisher in erster Linie auf Entwicklungen auf nationaler Ebene ab: Dialog- und Inputebene ist meist national, als Quellen werden unter anderem VertreterInnen der Mitgliedstaaten befragt. Adressat der Empfehlung der Kommission sind ebenfalls die nationalen Regierungen der Mitgliedsstaaten. Die Inhalte der Berichte sind aber nicht strikt festgelegt. Die Kommission kann auch regionale Entwicklungen erwähnen, wenn sie die entsprechenden Informationen erhält. So wird im Rechtsstaatlichkeitsbericht für Polen 2020, 2021 und 2022 die Entscheidung einiger polnischer Regionen kritisiert, sich „LGBTI-freie Zonen“ zu nennen. Auch im Bericht für Deutschland wurde bereits auf regionale Entwicklungen Bezug genommen. 2023 fand beispielsweise der Skandal um die Misswirtschaft beim RBB in Brandenburg Erwähnung.

Das EU-Justizbarometer ist ein weiterer jährlicher Bericht der Kommission, der die Grundlage für weiterreichende Schritte sein kann. Allerdings stützt sich der Bericht zu einem großen Teil auf quantitative Daten, beispielsweise die durchschnittliche Dauer von Gerichtsverfahren, die aggregiert auf der Ebene der Mitgliedsstaaten erhoben werden. Qualitative Kapitel zu einzelnen Mitgliedsstaaten gibt es hier nicht. Veränderungen auf regionaler Ebene dürften deshalb schwierig abzubilden sein.

Korrektiv: Das Vertragsverletzungsverfahren

Die korrektiven Instrumente der EU zeichnen sich durch konkrete Sanktionen für Rechtsstaatlichkeitsverletzungen aus. Dazu zählt das Artikel 7-Verfahren, mit dem die Kommission Mitgliedsstaaten Rechte, die sich aus ihrer EU-Mitgliedschaft ergeben, entziehen kann. Für die Anwendung auf Rechtsstaatlichkeitsverstöße einer Landesregierung ist das Verfahren aber nicht geeignet, da sich die Sanktion dezidiert gegen nationale Regierungen richtet. Mit dem Vertragsverletzungsverfahren, über das Geldstrafen verhängt werden können, wäre es hingegen möglich ein Bundesland zu sanktionieren.

Verstößt ein Mitgliedsstaat gegen EU-Recht, kann die Kommission gegen diesen Mitgliedsstaat ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 und 260 AEUV einleiten. Am Ende dieses Verfahrens kann der Europäische Gerichtshof (EuGH) feststellen, dass ein Mitgliedsstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstößt. Leistet der Mitgliedsstaat dem Urteil nicht folge, kann die Kommission den EuGH erneut anrufen und finanzielle Sanktionen verhängen lassen. Grund für ein Verfahren kann sein, dass ein Mitgliedsstaat ein neues Gesetz nicht rechtzeitig oder nicht korrekt umsetzt. Aber auch eine Verletzung der Grundwerte der Union (Art. 2 EUV) kann in einzelnen Fällen Grund für ein Verfahren sein.

In Deutschland kann die Umsetzung von EU-Richtlinien sowohl in die Zuständigkeit des Bundes als auch die der Länder fallen, je nachdem in wessen Kompetenzbereich die Maßnahme thematisch liegt. Bundesländer sind gemäß dem Bundesstaatsprinzip aus Art. 20(1) Grundgesetz dazu verpflichtet, EU-Recht im Rahmen ihrer Zuständigkeit korrekt umzusetzen. Viele europäische Umweltrichtlinien werden beispielsweise hauptsächlich von den Bundesländern implementiert. Auch an die Grundwerte der EU müssen Bundesländer sich halten: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Sollte die Regierung eines Bundeslandes diese Werte mit konkreten Maßnahmen verletzen, zum Beispiel durch ein neues Gesetz, das die Unabhängigkeit des Landesverfassungsgerichts gefährdet, könnte die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland starten. Das ist möglich, auch wenn die Verletzung eigentlich einer regionalen Regierung zurechenbar ist. 2021 eröffnete die Kommission beispielsweise ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen wegen einer potenziellen Verletzung des Rechts auf Nicht-Diskriminierung auf EU-Ebene, da sich einige Regionen in Polen als „LGBTI-freie Zonen“ deklariert hatten.

Falls der EuGH dann eine Vertragsverletzung feststellt, und das Urteil keine Wirkung zeigt, könnte er in einem weiteren Urteil Deutschland mit einer Finanzsanktion belegen. Eine solche Strafzahlung müsste dann gemäß Art. 104a (6) Grundgesetz in Verbindung mit dem Lastentragungsgesetz das Bundesland zahlen, das für die Strafe verantwortlich ist. Nach § 5 Abs. 1 des Lastentragunsgesetzes kann sich der Bund solche Zahlungen von den Ländern nämlich erstatten lassen. Weigert sich das Land die Finanzsanktion zu übernehmen, kann der Bund nach § 387 des Bürgerlichen Gesetzbuches die Sanktion gegen Ansprüche des Landes aufrechnen.

Präzedenzfälle gibt es für dieses Vorgehen in Deutschland bisher nicht. Es wurde noch kein Gebrauch des Lastentragungsgesetzes in Zusammenhang mit dem Vertragsverletzungsverfahren gemacht. Grundsätzlich ist es aber möglich, Verletzungen von EU-Grundwerten auf Ebene der Bundesländer mit dem Vertragsverletzungsverfahren zu ahnden. Ein Nachteil ist, dass das Verfahren durchschnittlich zwei Jahre dauert. Bei der nur fünfjährigen Amtszeit der Regierung eines Bundeslandes wie Thüringen könnte es einen großen Teil einer Legislaturperiode andauern, bis eine Entscheidung fällt. Außerdem liegt es im Ermessensspielraum der Kommission, den EuGH anzurufen. Das müsste sie gleich zweimal tun – und Deutschland müsste zweimal verurteilt werden – bis es zu finanziellen Sanktionen kommt.  

Budgetär: Maßnahmen zum Schutz des EU-Haushalts

Die EU hat das Recht, Zahlungen aus dem EU-Haushalt an Mitgliedsstaaten vor Korruption und Rechtsstaatlichkeitsbrüchen zu schützen. Dafür hat sie verschiedene Instrumente wie die Konditionalitätsverordnung von 2021, auch Rechtsstaatsmechanismus genannt, die bereits gegen die ungarische Regierung angewandt wurde.

Damit die Kommission Maßnahmen zum Schutz von EU-Gelder ergreifen kann, muss es eine ausreichend direkte Verbindung zwischen einem Rechtsstaatsverstoß und dem EU-Haushalt geben. Das heißt, dass ein Verstoß auch tatsächlich Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Geldern haben muss, damit die Kommission aktiv werden kann. Um auf Rechtsstaatlichkeitsbrüche in einzelnen Bundesländern zu reagieren, kann die EU ihre Instrumente also nur auf die EU-Gelder anwenden, die auch auf Landesebene verwaltet werden. Das ist in erster Linie bei den europäischen Strukturfonds der Fall, die wegen der föderalen Struktur in Deuschland größtenteils von den Bundesländern umgesetzt werden. Strukturfonds sollen den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der EU stärken.

Im Förderzeitraum von 2021 bis 2027 erhält das Land Thüringen insgesamt über 1,5 Milliarden Euro aus Strukturfonds. Die meiste Förderung kommt aus dem Europäischen Fond für regionale Entwicklung (EFRE, 1088 Millionen Euro) und den Europäischen Sozialfonds (ESF+, 466,5 Millionen Euro). Mit weiteren 90,9 Millionen aus der Ausbauhilfe für den Zusammenhalt und die Gebiete Europas (React-EU) wurde die Strukturförderung 2021 und 2022 aufgestockt.

Abbildung 1: EU-Förderung aus Strukturfonds in Thüringen.

Grundsätzlich gilt die Konditionalitätsverordnung für alle EU-Gelder. Es ist davon auszugehen, dass die Verordnung auch auf Rechtsstaatlichkeitsbrüche auf regionaler Ebene anwendbar ist – „staatliche Einrichtungen“ werden in Art. 2 der Konditionalitätsverordnung explizit als Behörden auf allen Regierungsebenen definiert. Im Fall von Thüringen wären solche Rechtsstaatsverletzungen relevant, die direkte negative Konsequenzen auf die Verwendung von Strukturfondsgeldern hätten. Art. 4(2) der Konditionalitätsverordnung zählt auf, was so einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit darstellen kann, insbesondere Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, Mängel im Justizsystem und bei der Korruptionsprävention.

Gemäß Art. 6(1) kann die Verordnung aber erst angewandt werden, wenn andere Prozesse das EU-Budget nicht effektiver schützen. Deshalb sind zuerst die gemeinsamen Bestimmungen für Strukturfonds aus der Verordnung 2021/1060 (kurz: Dachverordnung) relevant, die die finanziellen Interessen der EU ebenfalls schützen sollen.

Eine erste Möglichkeit auf Rechtsstaatsverletzungen auf regionaler Ebene zu reagieren hat die Kommission im Rahmen der Dachverordnung bei der Genehmigung der Programme für die Umsetzung der europäischen Strukturfonds. Hier schlagen die zuständigen regionalen Behörden ein operationelles Programm vor, dem die Kommission zustimmen muss. Bei dieser Genehmigung prüft die Kommission, ob das Programm die Anforderungen der Dachverordnung erfüllt. Das beinhaltet auch „bereichsübergreifende Grundsätze“ wie die Einhaltung der EU-Grundrechtecharta beim „Einsatz der Fonds“ und die Geschlechtergleichstellung bei der gesamten Vorbereitung und Durchführung der Programme (Art. 9 Dachverordnung). Gleiches gilt für Änderungen der Programme (Art. 24 Dachverordnung). Auf diese Möglichkeit berief sich die Kommission im Falle der polnischen Anti-LGBTI Regionen im September 2021 und genehmigte eine Änderung der regionalen Umsetzung des REACT-EU Programms wegen einer möglichen Verletzung des Grundsatzes der Nicht-Diskriminierung nicht. Die polnischen Regionen zogen daraufhin ihre Resolutionen zurück, weshalb der Fall geschlossen wurde. Theoretisch hätte die Kommission aber sonst die Möglichkeit, das Programm ganz abzulehnen (Art. 23(4) Dachverordnung).

In Thüringen ist das EFRE-Programm mit knapp 1,1 Milliarden Euro zwischen 2021 und 2027 aktuell der größte Strukturfonds. Das Programm für diese Förderperiode wurde 2022 von der Kommission genehmigt und wird vom Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft verwaltet. Die Gelegenheit, sich bei der Genehmigung auf Art. 23 der Dachverordnung zu berufen käme für die Kommission also wahrscheinlich erst 2028 oder 2029 wieder. Die Möglichkeit bei Änderungsanträge Druck auszuüben könnte sich hingegen häufiger ergeben, da die Förderperioden sehr lang sind und beispielsweise veränderte wirtschaftliche Bedingungen Änderungen notwendig machen können.

Auch bei der Auszahlung der Strukturgelder hat die Kommission eine Möglichkeit, auf Rechtsstaatlichkeitsbrüche zu reagieren. Mitgliedstaaten bzw. Verwaltungsbehörden müssen sicherstellen, dass sogenannte „zielübergreifende grundlegende Voraussetzungen“ (Art. 15 Dachverordnung) in der Umsetzung der Programme dauerhaft erfüllt sind. Dazu gehören die Einhaltung der EU-Grundrechtecharta und der UN-Behindertenrechtskommission, inklusive Nichtdiskriminierung, Gleichheit von Frauen und Männern und wirksamer Rechtsschutz und Umweltschutz. Wird eine Voraussetzung nicht erfüllt, erstattet die Kommission mit der Voraussetzung verbundene Ausgaben nicht.

Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, wie weitreichend die Kommission diese Möglichkeit nutzen kann, um Gelder nicht auszuzahlen. Fraglich ist hier, ob die grundlegenden Voraussetzungen nur bei Handlungen erfüllt sein müssen, bei denen Behörden aktiv EU-Gelder verwalten, oder ob auch systematische Rechtsstaatlichkeitsdefizite addressiert werden können. Dafür, dass Behörden generell die Voraussetzungen erfüllen müssen, spricht unter anderem ein 2022 von der Kommission verabschiedetes Partnerschaftsabkommen mit Ungarn zu den EU-Strukturfonds. Darin beschreibt die Kommission, dass Mängel im ungarischen Justizsystem und Risiken für die Wissenschaftsfreiheit einen direkten Einfluss auf die Einhaltung der Grundrechtecharta haben und deshalb in Ungarn die grundlegenden Voraussetzungen für die Strukturfonds nicht erfüllt sind und die Kommission Strukturgelder nicht auszahlen kann.

Diesem Ansatz folgend könnte die Kommission also die Auszahlung von Strukturgeldern stoppen, wenn es in Thüringen zu  Verletzungen der EU-Grundrechtecharta im Zusammenhang mit der Umsetzung von EU-Strukturprogrammen käme. Die Kommission hat sich bereits auf eine Reihe von Grundrechten berufen, unter anderem Nicht-Diskriminierung und Wissenschaftsfreiheit, um Gelder für Ungarn nicht auszuzahlen. Diese Herangehensweise spricht dafür, das die Dachverordnung potenziell weitreichende Instrumente bietet, um auf Rechtsstaatlichkeitsverstöße auf regionaler Ebene zu reagieren.

Wie effektiv wären diese Instrumente?

Wie schmerzhaft wäre es für eine Thüringer Landesregierung, auf EU-Gelder und insbesondere auf die Strukturfonds verzichten zu müssen? Für die Jahre 2023 bis 2027 liegen die geplanten Investitionsausgaben des Landes bei jeweils knapp über 2 Milliarden Euro. Diese Ausgaben setzen sich aus Mitteln des Landes, des Bundes und der EU zusammen. Zwischen 2023 und 2027 kommen von den geplanten Ausgaben jedes Jahr zwischen 394 und 485 Millionen Euro aus EU-Programmen. Mit davon durchschnittlich etwa 300 Millionen pro Jahr machen die Strukturfonds damit etwa 15 Prozent der gesamten Investitionsausgaben aus. Für Thüringen wären das erhebliche Mittel, der Wegfall dieser Regional- und Wirtschaftsförderung könnte das Land empfindlich treffen und negativ auf die Landesregierung zurückfallen.

 

Abbildung 2: Investitionsausgaben in Thüringen. Quelle: Mittelfristiger Finanzplan 2023 bis 2027.

Dass die Androhung des Wegfalls von EU-Fördergeldern auf regionaler Ebene Wirkung zeigen kann, zeigt sich am Beispiel Polens: Um den Verlust von EU-Mitteln in Milliardenhöhe zu vermeiden, zogen viele Regionen ihre Anti-LGBTI Resolutionen zurück. Eine ersetzte sie sogar mit einer Anti-Diskriminierungs-Resolution.

Auch im Vergleich mit den anderen besprochenen Möglichkeiten erscheinen die Instrumente der Dachverordnung insgesamt am geeignetsten, um effektiv auf regionale Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu reagieren – trotz einiger Limitierungen. Von der Möglichkeit, Programme nicht zu genehmigen, kann die Kommission etwa nur vor dem Start eines Programms Gebrauch machen. Danach hat sie über dieses Instrument keine Möglichkeit mehr, Rechtsstaatlichkeitsbrüche im Laufe des Programmes zu ahnden. Auf die Option, Gelder nicht auszahlen sollten grundlegende Voraussetzungen nicht erfüllt sein, hat sich die Kommission aber bereits mehrfach berufen und dabei verschiedene Artikel der EU-Grundrechtecharta angeführt, die bei Versuchen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf Landesebene zu untergraben, relevant werden könnten. Letztendlich verhält es sich auf regionaler Ebene ebenso wie auf nationaler Ebene: EU-Rechtstaatlichkeitsinstrumente sind nur so effektiv, wie sie auch genutzt werden. Es bedarf also einer konsequenten Anwendung durch die Kommission.

Fazit

Bisher hat sich die EU-Kommission bei dem Schutz der Rechtstaatlichkeit in der EU auf nationale Regierungen konzentriert. Angesichts der Erfolge rechtspopulistischer und -extremer Parteien in immer mehr Mitgliedsstaaten könnten aber auch Verstöße auf regionaler Ebene an Relevanz gewinnen. Gerade in einem föderalen System wie dem deutschen haben Landesregierungen eine wichtige Rolle und können erheblichen Schaden anrichten.

Diese Analyse hat gezeigt, dass die EU hier mit den bereits existierenden Rechtsstaatlichkeitsinstrumenten einschreiten könnte. Am effektivsten wären die budgetären Maßnahmen, mit der die Kommission Gelder aus Strukturfonds, die von den Bundesländern verwaltet werden, zurückhalten könnte. Diese Instrumente sind recht unkompliziert, direkt auf Regionen anwendbar und können eine Reihe von Grundrechtsverletzungen abdecken. So könnte die Kommission verhindern, dass Regierungen und Projekte, die den Grundwerten der Union entgegenwirken, mit EU Geldern unterstützt werden. Für viele Regionen in Europa sind die Strukturfonds von erheblicher finanzieller Relevanz, weshalb sie ein wirksames Mittel sein könnten, um Druck auf regionale Regierungen auszuüben.

In ihren Politischen Leitlinien schreibt Ursula von der Leyen, dass die Kommission ihre Instrumente zum Schutz des EU-Haushalts in der nächsten Legislaturperiode weiter anwenden und stärken will. Sollte in Thüringen also eine rechtsextreme Landesregierung gegen die Grundwerte der Union verstoßen, könnte einen ernsthaften Konflikt mit der Kommission und Milliarden an EU-Fördergeldern riskieren. Ob letztendlich Gelder gestrichen würden, wäre dann eine politische Entscheidung der Kommission. Die Möglichkeiten dazu hätte sie.

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1 Aktuell in Italien, Finnland, Slowakei, Ungarn, Kroatien, Tschechien, Niederlande. Unterstützung in Schweden. In diesem Jahr könnten Belgien, Österreich und Rumänien folgen.

2 In Ungarn hatten sich nur umgekehrt Städte beschwert, dass sie keine direkte EU-Förderung bekämen, obwohl sie sich an die Vorgaben halten würden.

3 Zu weiteren präventiven Instrumenten gehören einige Dialogformate wie der Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips.

 

Foto: CC Lennart Uecker, Quelle: Unsplash