Die Bedrohungen
These 1: Sowohl Brexit als auch Trump können den europäischen Außenhandel gefährden. Dennoch sollten wir ihnen nicht die gleiche Wichtigkeit einräumen.
Im Falle des Vereinigten Königreichs ist für mich eine Abschottung nur als Konsequenz eines Verhandlungsunfalls vorstellbar. Freihandel ist das erklärte Ziel der britischen Regierung. Es stellt sich nur die Frage, ob sie bereit ist, den Preis für ein umfassendes Abkommen mit der EU zu zahlen, zum Beispiel einen Haushaltsbeitrag. Im schlimmsten Fall gälten letztlich die Regeln der Welthandelsorganisation.
Im Falle der USA ist es umgekehrt. Das erklärte Ziel ist eine Abkehr von der offenen Handelspolitik der letzten Jahrzehnte. Die Frage hier ist: Welchen Preis ist Donald Trump bereit zu zahlen, um die amerikanischen Wirtschaft abzuschotten? Im schlimmsten Fall halten sich die USA nicht mehr an die Regeln und Streitschlichtungen der WTO. Das wäre ein gewaltiges Problem für das gesamte Welthandelssystem.
These 2: Steuerdumping ist eine zentrale Bedrohung für die EU.
Sowohl in den USA als auch in Großbritannien werden radikale Steuersenkungen diskutiert. Theresa May hat die niedrigste Unternehmenssteuer in den G20 versprochen, Trump eine Rate von 15 Prozent. Es bleibt zu sehen, inwiefern sich das als durchsetzbar erweist, aber das Potential für einen schädlichen Wettstreit um die niedrigsten Steuern ist unübersehbar. In beiden Fällen ist klar, dass die Strategie nur dann profitabel sein kann, wenn Unternehmen aus anderen Ländern abgeworben werden.
Für die Mitglieder der EU ist das aktuell besonders gefährlich. Sie kommen von zwei Seiten unter Druck: Einerseits beklagt die Bevölkerung wachsende Ungleichheit. Sie fordert Schutz vor den negativen Folgen der Globalisierung. Andererseits wird es immer schwieriger, die dafür notwendigen Einnahmen zu erzielen.
These 3: Solange sich die EU nicht ihrer Vergangenheit stellt, bleibt sie verwundbar.
Die Einigkeit der EU ist in heute enorm wichtig. Trumps Außenhandelsstrategie basiert darauf, einzelne Länder in bilateralen Abkommen zu isolieren, um die relative Stärke der USA voll ausspielen zu können. Und für Großbritannien wäre es ideal, in den Brexit-Verhandlungen „teilen und herrschen“ zu können.
Für den Moment scheint dieses Bewusstsein die EU zusammengetrieben zu haben. Aber darauf dürfen wir uns nicht ausruhen. Es gibt zu viele Krisen, die im Hintergrund weiter schwelen und jederzeit explodieren können. Die Flüchtlingskrise und die Eurokrise wurden nicht gelöst, sondern nur im Territorium Griechenlands und Italiens eingesperrt. Selbst wenn wir kein Interesse am Wohlergehen der Menschen dort hätten: Wir haben an Griechenlands Hinwendung zu Russland im Grexit-Sommer 2015 gesehen, dass die Einigkeit der EU nie als selbstverständlich betrachtet werden darf.
Die Chancen
These 4: Ein amerikanischer Rückzug aus der Welt der multilateralen Abkommen hinter-lässt eine Lücke.
Großbritannien ist zu klein, um diese füllen zu können. Bisher ist klar, dass China die Chance nutzen möchte, um an Einfluss zu gewinnen. Aber auch die EU kann beispielsweise vom amerikanischen Ausstieg aus der Transpazifischen Partnerschaft profitieren. Länder wie Japan wünschen sich mehr denn je ein Gegengewicht zu China – und glücklicherweise gibt es zwischen Japan und der EU schon sehr weit fortgeschrittene Gespräche über ein Freihandelsabkommen. Selbst wenn Europa nur zum Statthalter der USA während der Trump-Jahre wird: Es gewinnt dadurch an internationalem Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten.
These 5: Ohne Druck kein Wandel.
Die neue Lebenswirklichkeit der EU hat Türen geöffnet, wo man sie zuvor kaum noch erwartet hätte. Beispielsweise reißt der Brexit Lücken in die komplizierte Finanzierungsstruktur des EU-Haushalts. Das kann eine gute Nachricht sein, denn aus sich selbst heraus schien der Haushalt unmöglich zu reformieren. Einige Ausnahmeregelungen fallen nun automatisch weg und alte Prioritäten müssen überdacht werden, weil 10 Mrd. Euro pro Jahr fehlen.
Ein zweites Beispiel: Das amerikanische Misstrauen gegenüber dem Internationalen Währungsfonds und seinen Aktivitäten in Griechenland könnte die Eurozone zu einer ohnehin nötigen konstruktiven Leistung zwingen: Die Euroländer müssten endlich die volle Verantwortung für ihr Krisenmanagement übernehmen und eigene Strukturen aufbauen, beispielsweise einen Europäischen Währungsfonds.
Die Prioritäten
These 6: Die Europäische Union sollte sich auf Handelsabkommen konzentrieren, die pragmatisch und schnell umsetzbar sind.
Freihandelsabkommen sollten in den nächsten Jahren nicht überambitioniert sein, wenn das ihre Ratifizierung gefährdet. Wichtig ist, dass sie überhaupt abgeschlossen werden, um ein Zeichen für den Frei-handel zu setzen. Japan ist das beste Beispiel. Ein baldiger Abschluss eines vorsichtigen Abkommens wäre ein starkes politisches Signal. Dagegen wäre ein umfassender Vertrag, der dann am Veto der Wallonen scheitert, gefährlich. Nach dem Tauziehen um CETA würde das die internationale Glaubwürdigkeit der EU weiter beschädigen. Es würde auch das Misstrauen vertiefen, das Teile der Zivilgesellschaft gegenüber der Kommission hegen. Meiner Ansicht nach ist das ein zu hoher Preis für ein leicht erhöhtes Bruttoinlandsprodukt.
These 7: Die Zeit ist reif für eine begrenzte Harmonisierung der Steuerpolitik.
Europa als Ganzes kann recht effektiv gegen Steuerdumping vorgehen, sowohl durch internationale Verhandlungen als auch durch gemeinsame Regeln. Das Kernproblem liegt im Widerwillen der Mitglieds-staaten, Souveränität in diesem Bereich abzutreten. Doch wir brauchen nicht unbedingt einen gemein-samen Standardsteuersatz. Die Pläne der Kommission, die Berechnung der Unternehmenssteuer zu vereinheitlichen und zu konsolidieren, sind schon ein sehr wichtiger Schritt. Wenn Unternehmen dort Steuern zahlen, wo sie ihr Geld verdienen, sinkt der Anreiz für Steuerdumping innerhalb der EU. Ich halte Unternehmenssteuern auch für eine legitime Einnahmequelle, wenn es um den EU-Haushalt geht. So könnte man beispielsweise überkomplizierte Eigenmittel wie die Mehrwertsteuer-Ressource abschaffen.
These 8: Europa darf die Eurozone nicht vergessen.
Die EU spricht nicht mehr genug über die Reform der Eurozone. Seit Brexit scheint die Währungsunion ein Tabu-Thema unter Regierungschefs geworfen zu ein. Dabei ist eine Stabilisierung der Gemeinschaftswährung unverzichtbar, um die EU gegen externe Schocks zu wappnen. Die Währungsunion ist die konzentrierte Essenz der Dilemmata, die die EU auch in anderen Bereichen plagen. Also können Fortschritte in der Governance der Eurozone als Vorbild – oder doch wenigstens als Anschauungsobjekt – für die gesamte EU funktionieren.
Ein Beispiel: Die Einbindung nationaler Parlamente in das europäische Regieren. Die Kommission ist heute verantwortlich für die Koordinierung nationaler Wirtschaftspolitiken. So sollen neue Krisen verhindert werden. Dabei ist sie nicht besonders effektiv. Denn in vielen Bereichen – wie beispielsweise in der Koordinierung des fiscal stance oder der Lohnstückkosten– hat sie allenfalls teilweise Kompetenzen. Sie braucht die Mitwirkung der Mitgliedsstaaten.
Regeln allein haben in der Vergangenheit nicht ausgereicht, um dieses Problem zu lösen. Wir brauchen stattdessen eine zentrale Instanz mit starkem politischen Gewicht und finanziellen Mitteln, die das Wohlergehen der Eurozone als Ganzes verteidigt. Oft wird in diesem Zusammenhang ein europäischer Finanzminister genannt. Doch um Anerkennung zu finden, müsste er einerseits europäisch und andererseits national legitimiert sein. Ein gemeinsames Kontrollgremium aus europäischen und nationalen Parlamentariern wäre eine Möglichkeit. So würde die Mitsprache der Mitgliedsstaaten gesichert, ohne die europäische Dimension der Probleme zu vergessen. Dieses Gremium könnte beispielsweise auch einen Europäischen Währungsfonds beaufsichtigen.
Wie hilft das der europäischen Außenhandelspolitik? Auch hier berühren ehrgeizige Abkommen nationale Kompetenzen. Werden nationale Parlamente frühzeitig eingebunden, schafft das mehr Akzeptanz für die Ergebnisse. Den meisten unter uns ist klar, dass die Mitglieder der EU im 21. Jahrhundert nur gemeinsam wirklich Souveränität ausüben können. Aber solange unsere politischen Systeme auf den Nationalstaat konzentriert sind, müssen wir das auch auf der europäischen Ebene berücksichtigten – selbst wenn das heißt, dass wir uns nicht auf geradem Weg in Richtung der Vereinigten Staaten von Europa bewegen.