Politik
29.04.2016

EU-Rechtssystem im Wandel: Geduld statt Revolution

Demokratie ist mehr als eine Mehrheitsentscheidung. Sie ist ein Konzept, zu dem ebenso Meinungsfreiheit, starke Oppositionen und Versammlungsfreiheit gehören. Dieser Blog Post von Laura Maria Wolfstädter fasst die Diskussion vom 26. April 2016 zwischen Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Jean-Marc Sauvé, Vize-Präsident des obersten französischen Verwaltungsgerichts Conseil d’État zum Thema „Das Recht der EU im Wandel“ zusammen.

Keine Angst vor Krisen

Europa befinde sich tatsächlich in einer existenziellen Krise, da waren sich beide einig. Dabei stellte Jean-Marc Sauvé klar, nicht nur unkontrollierte Migrationsbewegungen, Haushaltskrisen und Terrorismusbedrohung seien große Herausforderungen für unser heutiges Europa, sondern auch die Gefährdung der Umwelt. Aber während so mancher Europäer zuweilen hiervor Angst bekommen könnte, schlägt Andreas Voßkuhle in Wir-schaffen-das-Manier beruhigende Töne an und erinnert uns daran, dass auch komplexe Systeme nur das sind, wozu wir sie machen. Der Bürger ist derjenige, der Entwicklungen in der Hand hält. Das gelte auch für den Binnenmarkt. Befürchtungen hinsichtlich der gemeinsamen europäischen Idee und dem Phänomen des Rosinenpickens, wie wir es gelegentlich bei einigen Mitgliedstaaten erleben, entkräftete Voßkuhle damit, dass dies in der Natur der Konstruktion liege und auch in anderen Bereichen zu finden sei – etwa beim Finanzausgleich der Länder. Solche Strömungen müssten wieder eingefangen werden und jeder müsse ein wenig im Kleinen zurückstecken, um das große Ganze funktionsfähig zu halten.

Demokratie ist mehr als eine Mehrheitsentscheidung

Mit Blick auf das derzeitige Aufkommen rechter Strömungen in einigen Mitgliedstaaten korrigierten die Richter unser Verständnis von Demokratie. Diese beinhalte, so Voßkuhle, mehr als die bloße Entscheidung der Mehrheit. Es sei ein Konzept, zu dem ebenso Meinungsfreiheit, starke Oppositionen und Versammlungsfreiheit gehören. Dieses ganzheitliche Konzept könne nicht allein dadurch erschüttert werden, dass vorübergehend bestimmte Meinungsspektren die Mehrheit im Parlament erlangten.

In Vielfalt geeint – die europäische Identität

Auch wenn wir weiter auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung gehen, bedürfe es, so Voßkuhle differenzierend, Vertiefung in den einen und Vielfalt in den anderen Bereichen. Europa hat verschiedene Identitäten und diese sollten auch gewahrt bleiben. Das Andersartige zu akzeptieren, sei dabei sehr wichtig. Beispielsweise kenne der Deutsche beim Thema Rechtsstaatlichkeit keinen Humor. Und so will Voßkuhle auch die „Insel“, die schon immer ein „Problemfall“ gewesen sei, als Teil dieser Vielfalt sehen. Damit wachsen wir, so Sauvé, in unserer gemeinsamen Identität. Der Fall Schrems sei hierfür ein schönes Beispiel. Die Datenschutz-Union präge heute die europäische Identität.

Dialog der Gerichte zur Formung einer gemeinsamen europäischen Identität

Ob ein deutsches Bundesverfassungsgericht denn wirklich beispielsweise Frankreich erklären wolle, was Demokratie ist, wurde kritisch nachgehakt und damit auch der so oft beschwichtigte Dialog der Gerichte angezweifelt, die für die jeweilige Auslegung solcher Konzepte in ihren Bereichen zuständig sind. Der Fall zum Europäischen Haftbefehl gilt hier als jüngster Präzedenzfall. Während Voßkuhle sich erfreut zeigte, dass der EuGH bereit sei, in einen konstruktiven Dialog zu treten, sieht Sauvé das Urteil vom 5. April 2016 ebenfalls als Echo auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts versteht. Unklar bleibt, warum gerade dem Gerichtedialog innerhalb der EU dienliche Verfahren der Vorabentscheidung (Art. 267 AEUV) vom Bundesverfassungsgericht hier nicht – und überhaupt erst einmal – genutzt wurde. f.

Europa von unten aufbauen – in kleinen Schritten

Wie es mit der EU weitergehen soll, machen die Richter deutlich: Europa muss von unten gebaut werden. Sogar von einer institutionellen Neuordnung war die Rede. Die Frage, wer Agent und wer Prinzipal bei der Durchführung von EU-Politik sei, müsse für jeden Unionsbürger deutlich werden. Allzu oft fehle das Gefühl, dass EU-Institutionen wirklich für den Bürger tätig sind und nicht für einen abstrakten Normgeber aus dem weit entfernten Europa. Das Fehlen dieses demokratischen Zusammenhangs auf europäischer Ebene sei verantwortlich für viele extreme Bewegungen. Bei einer institutionellen Neuordnung sei auch eine Opposition im Parlament wichtig.

Eine revolutionäre Neugestaltung wäre aber, nach Voßkuhles Ansicht, nicht der richtige Weg. Die Ästhetik der Revolution habe ihn noch nie fasziniert. Eine solche sei immer blutig und hinterher müsse alles neu aufgebaut werden. Kleine Schritte und organische Entwicklungen seien notwendig. Dass diese Schritte nicht immer in Richtung mehr Europa gehen müssen, machte Voßkuhle auch deutlich. Zentralismus sei nicht immer mit Stärke verbunden und es könne nicht immer alles von einer Stelle dirigiert werden.

In einer Art funktionellem Realismus beschreibt Sauvé die EU als ein Projekt, das wir immer weiter verfolgen müssten, auch wenn es vielleicht niemals erreicht werden könne. Die Verträge seien das, was möglich sei und die Gerichte müssten dafür sorgen, dass dieses Mögliche funktioniere. Wir sollten weder zu optimistisch noch zu pessimistisch sein.

Schließlich animierte Andreas Voßkuhle dazu, mehr Experimente zu wagen und Geduld zu bewahren. Viele Mitgliedstaaten seien seit ihrem Eintritt in die EU in wirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Hinsicht schon sehr weit gekommen. Aber solche Dinge benötigten eben Zeit.