Politik
09.12.2015

Baltikum: Defizitäre Energiestrategie – symptomatisch für EU-Energieunion?

Die baltischen Staaten – Estland, Lettland und Litauen – bildeten bis vor kurzem eine der isoliertesten Regionen des Europäischen Energiebinnenmarkts. Die Integration ihrer Gas- und Elektrizitätsmärkte schritt langsam voran. Ihre Abhängigkeit von den Erdgaslieferungen aus Russland betrug 100%. Das Jahr 2015 kennzeichnet allerdings eine Kehrtwende. Mit der Eröffnung des LNG-Terminals in Klaipeda legte Litauen den ersten Baustein auf dem Weg zu größerer Energieunabhängigkeit der baltischen Staaten.

In den ersten 12 Monaten betrug die Kapazität des LNG-Terminals „Independence“ 1,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Dies entspricht noch nicht der potentiellen Maximalkapazität, die unter der Bedingung des Ausbaus der notwendigen Infrastruktur 4 Milliarden Kubikmeter Gas erreichen kann, was ca. 80% des Gesamtverbrauchs der drei baltischen Länder darstellt. Das LNG-Terminal ist allerdings nicht das einzige Projekt zur Reduzierung der Importabhängigkeit vom russischen Gaslieferanten Gazprom. Am 15. Oktober trafen die Regierungen Polens, Litauens, Lettlands und Estlands, sowie die Europäische Kommission eine Vereinbarung über den Bau der ersten Gasverbindung zwischen Polen und Litauen. Durch Diversifizierung der Gaslieferungsrouten soll die neue Gasleitung die Energiesicherheit der baltischen Staaten erhöhen.

Zwischen außenpolitischen Zielen und innenpolitischen Realitäten

Was an der Oberfläche nach einer koordinierten Strategie aussieht, birgt in der Realität enorme Schwierigkeiten. Die erhöhte Importunabhängigkeit führt zu beträchtlichen Kosten, und nicht jeder ist bereit sie zu tragen. Während Litauen sich Abnehmer für sein LNG in der ganzen baltischen Region erhoffte, hat Lettland dem Einkauf von Gas aus Litauen bis jetzt nicht zugestimmt. Der Preis ist ein entscheidender Faktor, und momentan bietet Gazprom sein Gas den Letten zu einem niedrigeren Preis an. Die Betriebskoten des Terminals liegen bei $189,000 USD per Tag. Ohne einen Absatzmarkt werden diese Kosten von den litauischen Kunden in Form einer Kostenumlage getragen.

Die hohen Kosten stellen allerdings nicht das einzige Problem dar. Im Vergleich zu Litauen, hat Lettland bis heute die Richtlinien des dritten Energiepakets der Europäischen Kommission nicht umgesetzt. Mit dem bestehenden Vollmonopol von Latvijas Gaze, eines lettischen Gasunternehmens das zu 34% Gazprom gehört, ist die Liberalisierung des lettischen Energiemarkts in den letzten Jahren nicht vorangekommen. Dies kann zu Schwierigkeiten bei dem Gastransit aus Litauen nach Estland führen. Es zeichnet sich aber auch einen Fortschritt in diesem Bereich ab: Die vorläufige Entscheidung des lettischen Parlaments sieht vor, das Unternehmen bis Ende 2017 aufzuteilen. Nichtdestotrotz entschied sich Estland für den Bau eines eigenen LNG-Terminals zusammen mit Finnland. Das Projekt hat bereits den Status eines PCI (Project of Common Interest) der Europäischen Kommission bekommen.

Wie erklärt sich das unkoordinierte Vorgehen der baltischen Staaten? Sie profitieren von der größeren Verhandlungskraft gegenüber Gazprom, befinden sich allerdings im Spannungsfeld zwischen den außenpolitischen Zielen und innenpolitischen Realitäten. Damit haben die bisherigen Projekte zur Reduzierung der Importabhängigkeit von Russland in den baltischen Staaten eher einen politischen Charakter. Besonders wird das an der Gasleitung Polen-Litauen deutlich. Polen ist kein Gasexporteuer. Außer der geringen Eigenproduktion bezieht Polen das Erdgas aus Russland und Deutschland. Nach Angaben des BMWi betrugen die Gasimporte Deutschlands aus Russland 38% im Jahr 2014. Außerdem deckt Deutschland seinen Inlandsverbrauch durch Importe aus den Niederlanden (26%) und Norwegen (22%). Diese Zahlen bedeuten, dass das in Deutschland und Polen importierte Gas über die geplante Gasleitung weiter in das Baltikum exportiert wird. Damit trägt die neue Gaslieferroute zur Energiesicherheit der baltischen Staaten, allerdings nicht der gesamten Europäischen Union, bei. Im Falle eines Konfliktes zwischen der EU und Russland wären im Umkehrschluss auch die baltischen Staaten betroffen.

Europäischer Charakter der regionalen Herausforderungen?

Die Analyse der Situation im Baltikum führt zu zwei bedeutsamen Schlussfolgerungen. Erstens, fehlt es den baltischen Staaten zurzeit an einer gemeinsamen langfristigen Energiestrategie. Deutlich wird dies durch das unkooperative Verhalten Lettlands und Estlands in Bezug auf das LNG-Terminal in Klaipeda. Die zukünftige Entwicklung des Energiesektors im Baltikum wird von der Fähigkeit zur Einigung aller drei Länder abhängen. Angesichts des geringen Marktvolumens und ähnlicher Herausforderungen ist ein gemeinsames Vorgehen für die Energiesicherheit der baltischen Staaten entscheidend.

Die zweite Erkenntnis erweist sich als komplexer. Die derzeitigen Entwicklungen in den baltischen Staaten deuten darauf hin, dass es der Europäischen Energieunion an Instrumenten zur Steuerung der Gaslieferbeziehungen mit Russland fehlt. Man versucht eine direkte Abhängigkeit zu umgehen, verhindert aber damit ein effektives Management der Importbeziehungen. Eine Lösung könnte die Etablierung einer EU-Russland Gas Kommission darstellen, die für die Gaslieferbeziehungen zwischen der EU und Russland zuständig wäre. Die Aufgaben der Kommission würden unter anderem die Garantie der Liefersicherheit, Infrastrukturplanung, Koordination der Beziehungen mit den Transitländern, sowie das Monitoring der Einhaltung von regulatorischen Vorschriften umfassen. Eine unabhängige Expertenabteilung zusammen mit einem Streitschlichtungsdepartment könnten die zwei wichtigsten Säulen der Institution bilden. Während das Ziel der Europäischen Energieunion Reduzierung der Energieabhängigkeit der EU ist, wäre das Ziel der EU-Russland Gas Kommission die stärkste bestehende Importabhängigkeit effektiv zu koordinieren.

Die Analyse der aktuellen energiepolitischen Entwicklungen in den baltischen Staaten erlaubt somit an den derzeitigen Defiziten der Europäischen Energieunion zu reflektieren. Während die Koordination zwischen den EU-Mitgliedstaaten weiterhin eine der größten Herausforderungen der Vollendung des Energiebinnenmarkts darstellt, bieten die bestehenden Strukturen der EU keinen Mechanismus zur Koordination der Gaslieferbeziehungen mit der Russischen Föderation. Die Entpolitisierung der EU-Russland Energiebeziehungen durch die Etablierung einer gemeinsamen Institution könnte sich positiv auf die Sicherheitslage in der Europäischen Union und dem gesamten Europäischen Kontinent auswirken.

Jekaterina Grigorjeva ist Senior Manager für Energie und Klimapolitik beim Bundesverband der deutschen Industrie, davor arbeitete sie für das Jacques Delors Centre.

Bild: CC Mantas Volungevicius, Source: flickr