Politik
21.10.2024

Asylpolitischer Unterbietungswettbewerb ohne Gewinner: Warum es europäische Lösungen braucht

Der Policy Brief thematisiert die Herausforderungen und Defizite der aktuellen europäischen Migrationspolitik, insbesondere den „Wettbewerb nach unten“ der Mitgliedstaaten, vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Migrationsdebatte in Deutschland. Immer mehr EU-Mitgliedsstaaten ergreifen restriktivere Maßnahmen, von Auslagerungsabkommen über Binnengrenzkontrollen bis hin zur Aussetzung des Asylrechts, was zu einer immer ungleicheren Verteilung des Migrationsdrucks in Europa führt. Nationale Alleingänge und populistische Rhetorik untergraben die Solidarität innerhalb der EU und führen zu einer Aushöhlung unionsrechtlicher Prinzipien. Dabei sind viele dieser Maßnahmen symbolischer Natur und verfehlen ihre intendierte Wirkung. Zielführender wäre das Hinarbeiten auf eine gemeinsame europäische Lösung, die faire Asylverfahren und menschenwürdige Unterbringung in allen Mitgliedsstaaten sicherstellt. Deutschland könnte hierbei eine Vorbildfunktion einnehmen, insbesondere durch die Umsetzung der jüngst beschlossenen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und eine stärkere Einbindung von EU-Institutionen zur Überwachung und Durchsetzung der Asylstandards.

von Dr. Judith Kohlenberger, Associated Policy Fellow am Jacques Delors Centre

Einleitung

Beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungschef:innen Mitte Oktober in Brüssel stand „Migration“ erneut ganz oben auf der Agenda, unter anderem vorangetrieben von Dänemark, Schweden und Österreich. Polens Regierungschef Donald Tusk forderte erst kürzlich die Aussetzung des europäischen Asylsystems, während Frankreichs neue Regierung unter Premierminister Michel Barnier genauso wie ihr niederländischer Gegenpart für strengere Migrationsregeln plädieren. Währenddessen hat Italien die ersten Migrant:innen in das neue Abschiebezentrum im albanischen Gjader gebracht, wo sie nach einem Schnellverfahren wohl abgelehnt und in ihre Herkunftsländer rückgeführt werden sollen. Aus der Erfahrung dieser Zentren wolle man „Lehren ziehen,“ so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem Brief an die Mitgliedstaaten, um zukünftig weitere Rückführungszentren außerhalb der EU zu schaffen.

Auch Deutschland findet sich seit dem Attentat in Solingen und den Wahlerfolgen der Alternative für Deutschland (AfD) in einer hitzig geführten, von populistischen Untertönen begleiteten Migrationsdebatte wieder. Das veranlasste zuletzt die Ampelkoalition, restriktiver bei Abschiebungen vorgehen zu wollen, getrieben von der oppositionellen CDU/CSU, die sich die Stichworte wiederum von Rechtsaußen vorgeben lässt. Herausgekommen sind neben Binnengrenzkontrollen bisher wenig konkrete Maßnahmen, auch wenn sich die Politik in ihren Forderungen nach „neuer Härte“ regelrecht zu überbieten scheint. Doch entspricht die immer schärfer klingende Migrationsdebatte der Realität?

Die Mehrheit der bundesdeutschen Maßnahmen zur Bekämpfung irregulärer Migration, darunter die Kontrolle der Schengen-Binnengrenzen, sind der Symbolpolitik zuzuordnen. Ihre nachhaltige Wirkung auf das Migrationsaufkommen bleibt fraglich, müssen doch Asylansuchen ankommender Migrant:innen in jedem Fall entgegengenommen werden. Laut des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) habe es in den ersten Tagen der Kontrollen sogar einen leichten Anstieg an Ansuchen gegeben. Dem entgegen stehen 540 Zurückweisungen in der ersten Woche, jedoch hauptsächlich an jenen deutschen Binnengrenzen (etwa zu Polen), die schon seit längerem kontrolliert werden. 

Eindeutig dagegen ist ihre innereuropäische Signalwirkung, wird dadurch doch der in der Asylpolitik schon lange laufende „Wettbewerb nach unten“ angeheizt. In zahlreichen Mitgliedsstaaten zeigen sich – teils bewusst vorangetriebene – Umsetzungsdefizite der europarechtlich vorgesehenen Aufnahme- und Verfahrensstandards geflüchteter Menschen. Diese bewusst in Kauf genommenen Rechtsbrüche (bis hin zur de facto Aussetzung des Asylrechts in Ungarn) und katastrophalen Lebensbedingungen in Aufnahmezentren an den Außengrenzen (bis hin zur Obdachlosigkeit von Asylbewerbern und -berechtigten in Griechenland) haben zur Weiterreise vieler Flüchtlinge in andere Länder, darunter Deutschland, geführt. Der somit immer ungleicher verteilte Migrationsdruck, der auf Europa lastet, befeuert nationale Alleingänge und gefährdet die ohnehin schon brüchige Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.

Dieser Policy Brief plädiert für eine europäische Herangehensweise im Einklang mit Unions- und Völkerrecht, von der insbesondere die deutsche Migrationspolitik profitieren würde. Anhand konkreter Empfehlungen wird skizziert, wie ein europäischer Weg, mit einem selbstbewussten Deutschland als Vorbild in Flüchtlingsaufnahme und -unterbringung, aussehen kann.

Ein von der Realität entkoppelter Diskurs

Der aktuelle, in Teilen verhetzend wirkende Migrationsdiskurs bildet nicht die Migrationsrealität Deutschlands ab.

Erstens sind die aktuellen Asylzahlen in Deutschland und Europa rückläufig. Zwar hat die Bundesrepublik in den letzten Jahren tatsächlich einen Großteil der gesamteuropäischen Asylanträge – zusätzliche ukrainische Ankünfte nicht einberechnet – gestemmt, während sich ihre Nachbarn dieser Verantwortung entzogen. 2024 ist jedoch mit bisher rund 174.000 Asylanträgen (Stand Ende August) ein Rückgang von etwa 26 Prozent zu verzeichnen. Damit spiegelt sich hierzulande das generelle Migrationsgeschehen in Europa wider, welches, nach dem Abbau des covidbedingten Rückstaus im 2022, leicht rückläufig ist. Auch die Anzahl der irregulären Einreisen an den EU-Außengrenzen ist gesunken, um satte 39% gegenüber dem Vergleichszeitraum aus dem Vorjahr – vor allem über die für Mitteleuropa relevanten Routen des Westbalkans und des zentralen Mittelmeers.

Unter den Anträgen liegt die Gesamtschutzquote in der Bundesrepublik im laufenden Jahr bei 46,7 Prozent. Das beinhaltet Anerkennungen als Flüchtling, subsidiären Schutz und Abschiebeverbot. Bereinigt man diese Quote um jene Anträge, die ohne inhaltliche Prüfung zurückgezogen werden, etwa weil ein anderes Land formal dafür zuständig ist, kommt man auf eine Schutzquote von 62%. Noch nicht darin enthalten sind jene Menschen, die gegen einen erstinstanzlichen negativen Bescheid Berufung einlegen und in zweiter Instanz Schutz zugesprochen bekommen. Deren Anteil kann, je nach Verfahrenslänge, die de facto Schutzquote noch anheben. Im Jahr 2023 lag die Klagsquote bei etwa 30%. Die Schutzquote wird, im Gegensatz zu der Anzahl der Asylgesuche, schwieriger zu reduzieren sein. Denn solange die Fluchtursachen in den Herkunfts- und Transitländern weiterbestehen, werden Asylgesuche auch gestellt und in weiterer Folge zu einem nicht unerheblichen Anteil positiv beschieden werden.

Zweitens ist die deutsche Migrationspolitik, ungeachtet aller Ressentiments, ein Erfolg. Das Land ist sicherer als vor dreißig Jahren – obwohl mit Verweis auf Einwanderung oftmals anderes behauptet wird. Die Zahl der Gewalttaten ist seit den 1990ern deutlich gesunken. Die Integration der 2015 ins Land gekommenen Geflüchteten läuft gut: Ihre Erwerbstätigenquote liegt bei 64% und hat mittlerweile fast das Niveau regulärer Migrant:innen erreicht. Unter geflüchteten Männer liegt die Erwerbstätigenquote sogar über jener der männlichen Gesamtbevölkerung (81%): 86% der geflüchteten Männer sind selbstständig oder unselbstständig beschäftigt. Bei der Arbeitsmarktintegration geflüchteter Frauen (33% sind erwerbstätig) gibt es Verbesserungsbedarf, was unter anderem mit der hohen Geburtenrate und kulturellen Vorstellungen zusammenhängt. Die Geschichte der 2015 ins Land Gekommenen ist eine der vielen, kleinen, fast schon trivialen Erfolge des Einwanderungslands Deutschland. Das hat auch die OECD erkannt und betont, dass die Bundesrepublik vor allem im Bereich der Sprachförderung durch Integrationskurse positiv hervorsteche, was wiederum zu einer im internationalen Vergleich hohen Erwerbsintegration führte. Viele syrische Geflüchtete beantragen bereits die deutsche Staatsbürgerschaft, engagieren sich in Vereinen, und hielten das Land während der Corona-Pandemie in niedrig entlohnten, mitunter schmutzigen und gefährlichen, aber systemerhaltenden Berufen am Laufen. Ihre Kinder, ob hier geboren oder mittels Familienzusammenführung nachgekommen, wachsen als neue Deutsche auf.

Dass dennoch soziale Probleme verstärkt auf Migration zurückgeführt werden, liegt daran, dass die Migrationspolitik nun lösen soll, was eigentlich Themen der Wohn-, Sozial-, Wirtschafts- oder Gesundheitspolitik sind. Der Ausbau von Schulen und die Ausbildung von mehr pädagogischem Personal, um dem demographischen Wandel entgegenzutreten oder die Sanierung und Wartung öffentlicher Infrastruktur – das sind nur einige der Themen, die seit vielen Jahren ihrer Bearbeitung harren. Doch ob sie durch eine migrationspolitische Strategie einer „neuen Härte“ gegenüber Asylwerbenden gelöst werden können, ist mehr als fraglich. Diese neue Härte zeigt sich vor allem in Binnengrenzkontrollen, rascherer Rückstellung von sogenannten „Dublin-Fällen“ (also Personen, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden) und deren Inhaftierung in Schubhaftzentren. Doch deren Wirkung ist selbst für Probleme der Migrationspolitik zu hinterfragen, geschweige denn für andere Themen.

Wirkung von Migrationspolitik oft anders als intendiert

Die Erfahrung zeigt, dass viele der aktuelle diskutierten oder bereits umgesetzten migrationspolitischen Maßnahmen nicht dauerhaft zu niedrigeren Migrationszahlen führen, wohl aber zu mehr Kosten. Dass es bundesweit nur etwa 800 Schubhaftplätze, also viel zu wenig für alle Dublin-Ausreisepflichtigen gibt, wird in der derzeitigen Debatte ebenso ignoriert wie die paradoxe Wirkweise von Grenzkontrollen. Die können im Extremfall nämlich mitunter zu steigenden, anstatt zu sinkenden Asylantragszahlen führen, weil durch engmaschige Kontrollen mitunter auch jene, die vielleicht nur durch- oder weiterreisen wollten, veranlasst werden, ein Asylansuchen zu stellen – denn die Alternative wäre Rückweisung. Die Wirkung der Kontrollen auf die deutsche Asylstatistik ist also ambivalent, ihre volkswirtschaftlichen Kosten sind es keineswegs: Laut einer Analyse von Allianz Research (2024) könnten sich diese auf rund EUR 1,1 Milliarden jährlich belaufen. Diese Summe erklärt sich durch Wartezeiten an den Grenzen, vor allem an den Seegrenzen, wodurch Wareneinfuhren um etwa 9,1% und Dienstleistungseinfuhren um 7,8% sinken würden. Dies könnte das Risiko einer Rezession in einem ökonomisch ohnehin schon fragilen Umfeld verschärfen.

Was ihren migrationspolitischen Effekt oder ihre vermeintlich abschreckende Wirkung betrifft, sind Grenzkontrollen meist nur rein symbolischer Natur. Das ist gilt vor allem, wenn sie wie angekündigt „smart“, also durch reine Stichproben durchgeführt werden. Werden Personen ohne gültige Einreisedokumente aufgegriffen und wollen einen Asylantrag stellen, so sind deutsche Grenzpolizist:innen (wie auch ihre Kolleg:innen in allen anderen EU-Mitgliedstaaten) unionsrechtlich verpflichtet, ihr Ansuchen entgegenzunehmen. In der Regel bedeutet das, dass Aufgegriffene an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weiterverwiesen worden. Ob sie dort jemals vorstellig werden, überprüft selten jemand – schon gar nicht die von Personalknappheit betroffene Bundespolizei. Deren Gewerkschaft argumentiert zurecht, dass „stationäre Grenzkontrollen an den Binnengrenzen […] nach geltendem Recht keine Asylantragstellungen verhindern“ können.

All diese geballte Evidenz hindert aber die Ampelkoalition nicht, getrieben von der oppositionellen CDU/CSU, die sich ihre Stichworte wiederum von der AfD vorgeben lässt, strukturelle Probleme der Bundesrepublik, von zu langen Wartezeiten auf Arzttermine bis zur maroden öffentlichen Infrastruktur, zu ethnisieren und religionisieren, also einer bestimmten Ethnie oder einer bestimmten Religion (dem Islam) zuzuordnen. Ganz so, als ob durch Subtraktion dieser Gruppen all die genannten Problemlagen über Nacht verschwinden würden. Dass auch dafür die Konzepte bereits vorliegen, weil sie von rechtsextremen Gruppierungen, allen voran der Identitären Bewegung, in die Mitte des politischen Spektrums hineingespielt wurden, zeigte Anfang des Jahres der Bericht der Rechercheplattform Correctiv. Damals ging noch ein zivilgesellschaftlicher Aufschrei durch die Bundesrepublik und Tausende traten auf spontanen Kundgebungen für ein buntes, vielfältiges Deutschland ein. Heute fallen die Reaktionen auf jüngste und geplante Asylrechtsverschärfungen – die immerhin bis zur Aushebelung des Unionsrechts gingen – wesentlich verhaltener aus.

Eine Politik des kalkulierten Rechtsbruchs

Noch verhaltener fallen das Drängen auf bzw. die Rufe nach europäischen Lösungen aus. Im Gegenteil, ganz offen wurde im Frühherbst 2024 über Ausrufung eines Notstands in Bezug auf Artikel 72 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) und Untergrabung des unionsrechtlichen verankerten Prinzips der Nicht-Zurückweisung an den deutschen Grenzen diskutiert. Umgesetzt wurde dies schließlich nicht, wohl auch deshalb, weil bereits andere Staaten wie Ungarn versuchten, sich auf diese Klausel zu beziehen und damit vor dem EuGH scheiterten. Und ganz generell stellt sich die Frage, wie sich eine Notlage aktuell argumentieren ließe, denn wenn Deutschland mit seinem gut ausgebauten Asylsystem dies tut, könnten andere Mitgliedstaaten folgen. Sehr wohl umgesetzt aber wurde eine weitere temporäre Einschränkung des Schengener Abkommens. Damit wird ein zentrales Prinzip der Europäischen Union, die Personen- und Warenfreizügigkeit, abermals deutlich abgeschwächt.

Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass die als zeitlich befristet gedachten Kontrollen zu Deutschlands Nachbarn dem Beispiel jener an der österreichischen Grenze folgen werden: Dort wird seit 2015 stichprobenhaft kontrolliert um Schleppern habhaft zu werden bzw. Dublinfälle frühzeitig aufzugreifen und in weiterer Folge ins zuständige Land rückzuführen. Ein „Ausnahmezustand“, der alle sechs Monate im beidseitigen Einvernehmen verlängert wird, was laut EU-Recht jedoch nicht vorgesehen ist, vor allem, wenn die Verlängerung wie in diesem Fall mit derselben Begründung (Asylantragszahlen) erfolgt. Dies hat bereits zu einem ersten Urteil des EuGH mit Bezug auf österreichische Maßnahmen geführt, was wiederum einige deutsche Verwaltungsgerichte aufgriffen. Auf kurz oder lang könnte der jetzige Vorstoß der Ampelkoalition also vom Europäischen Gerichtshof untersagt werden.

Das hindert aber die Bundesregierung nicht daran, diese „Politik des kalkulierten Rechtsbruchs“ zu fahren. Es scheint, dass das Unionsrecht und, dahinter stehend, die europäische Solidarität und Kohäsion als gemeinsam geteilte Werte aller Mitgliedstaaten, bei aktuell diskutierten oder sich in Umsetzung befindlichen Asylrechtsverschärfungen immer weiter ins Hintertreffen geraten. Dabei ist Europa nicht das Problem, sondern muss Teil der Lösung der kollabierten deutschen Migrationsdebatte sein.

Ein laufender Unterbietungswettbewerb in Europa

Die vermeintlich „abschreckende“ Asylpolitik mancher Mitgliedstaaten funktioniert nur, so lange Migrationsbewegungen auf andere Routen bzw. andere Staaten umgelenkt werden können. Das haben die letzten neun Jahre seit dem langen Sommer der Migration gezeigt. Denn die Ursachen in den Herkunftsländern bleiben weiterhin unberührt von der Politik. Das ist das Fundament des seit Jahren laufenden Unterbietungswettbewerbs auf europäischer Ebene: Einzelne Länder, darunter Ungarn, Polen und Griechenland, entziehen sich ihrer Asyl-Verantwortlichkeit, indem sie eine höchst restriktive Migrationspolitik fahren. Aufnahmestandards für Geflüchtete werden nach unten nivelliert oder das Asylrecht gleich ganz ausgesetzt.

In der Folge verteilt sich der Druck immer ungleicher auf die verbleibenden Mitgliedsstaaten, die (noch) EU-rechtliche Verpflichtungen einhalten und Schutz gewähren, allen voran Deutschland und Österreich. Das vielgelobte dänische Modell funktioniert (für Dänemark) nur, weil es in unmittelbarer Nachbarschaft Länder gibt, die weiterhin Migrant:innen aufnahmen und -nehmen. Schutzsuchende werden dadurch auf andere (wenige) Mitgliedstaaten umgelenkt, wo die Ankunftszahlen steigen. Je mehr Länder sich also der europäischen Solidarität entziehen, desto mehr gerät diese unter Druck. Das geht zu Lasten jener Länder, darunter Deutschland, die weitaus größere Bemühungen anstellen, um Unions- und Völkerrecht einzuhalten. Von einer gemeinsamen europäischen Lösung würden gerade sie profitieren.

Die politische Losung, dass restriktive Migrationspolitik und -rhetorik Menschen abschrecke, sich überhaupt auf den Weg nach Europa zu machen, ist in dieser Form also nicht haltbar. In vielen Kontexten führt mehr Versicherheitlichung und „härterer „Grenzschutz“ dazu, dass Migrant:innen auf immer gefährlichere Wege oder weitere Distanzen ausweichen, wodurch die Wahrscheinlichkeit, dass sie dafür die (kostspielige) Hilfe von Schleppern in Anspruch nehmen, ungleich höher wird. Neun Jahre nach dem Rekordjahr 2015 zeigt sich immer deutlicher, dass mit dem präferierten Rezept, dem sich immer mehr Mitgliedstaaten anschließen, nämlich Abschottung, Abschreckung, Auslagerung, weder irreguläre Migration „auf Null gebracht“ noch Leid und Elend an Europas Außengrenzen beendet werden konnte. Höchstens wurden damit diese und weitere migrationsbedingte Problemlagen zeitlich und räumlich verlagert, langfristig aber immer größer und drängender.

Dabei fehlt es nicht an europäischen Regelungen und Gesetzen, sehr wohl jedoch an deren Durchsetzung. Das betrifft sowohl völkerrechtlich verankerte Eckpfeiler des Asylrechts, wie das oben diskutierte Gebot der Nicht-Zurückweisung, als auch unionsrechtliche Regularien, darunter die EU-Aufnahmerichtlinie. Die in ihr festgelegten Minimumstandards für die Versorgung und Unterbringungen von Asylwerbenden werden beispielsweise von Griechenland seit Jahren bewusst unterwandert, was Flüchtlinge zur Weiterreise animiert – ein wohl nicht unwillkommener Effekt. Diese Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit thematisierte auch der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) in seiner Stellungnahme vom September 2024 an. Dieses „Umsetzungsdefizit“ gefährdet die europäische Kohäsion und befeuert den Wunsch vieler Staats- und Regierungschef:innen nach nationalen Alleingängen, wodurch sie aber die Lücke zwischen Unionsrecht und dessen Anwendung noch weiter vergrößern. Nach Ungarn und Griechenland strebten zuletzt die Niederlande ein „Opt-out“ aus den europäischen Asylregeln an, und der polnische Premierminister Donald Tusk beabsichtigt gar, das Asylrecht ganz auszusetzen. Auch in diesem Fall würden Migrationsströme dadurch wohl nicht unterbunden, sondern auf Nachbarländer umgelenkt – darunter Deutschland. Zwar wurde dem niederländischen Ansuchen, wenig überraschend, nicht stattgegeben, doch die Signalwirkung ist deutlich: Mehr Restriktionen und Abschottung, mit Ausreizung des unionsrechtlichen Rahmens oder darüber hinaus, sind die tonangebenden Ideale der nationalen Migrationspolitik in immer mehr Mitgliedsstaaten. In den meisten davon sind es konservative oder Mitte-links-Regierungen, die damit den Rechtsaußen-Parteien in ihrer anti-europäischen Rhetorik entgegenkommen und ihre Politik zu imitieren versuchen.

Eine Rechtsaußen stärkende Rhetorik

Bereits vor den Wahlen zum Europäischen Parlament warnten Ivan Krastev und Mark Leonhard bereits vor genau dieser Entwicklung. Zwar nehme die europäische Bevölkerung die Erfolgsbilanz der EU als eher negativ wahr, sodass eine (Über-)Betonung ebendieser eher kontraproduktiv wirken könne, jedoch hätte Migration nicht die Bedeutung für die Mehrheit der Menschen, die ihr Politiker:innen gerne zuschreiben. Vor allem seien Sorgen und Ängste über steigende Immigration weniger einer von den EU-Bürger:innen wahrgenommenen „akuten Krise“ geschuldet, sondern Zeichen des „Erfolgs rechter Parteien, [die Migrationskrise] als Symbol für das Versagen der EU zu etablieren“. Tatsächlich sind nur 17% der EU-Bürger:innen der Meinung, die EU hätte in Migrationsfragen gute Arbeit geleistet – ein wesentlich geringerer Anteil als bei der Bewältigung der Corona-Pandemie (50%) oder der russischen Totalinvasion in der Ukraine (38%). Die Politik und Rhetorik rechter Parteien in punkto Asyl und Migration zu imitieren, so die Einschätzung Krastevs und Leonhards schon Anfang des Jahres, könnte nach hinten losgehen.

Mittlerweile wird diese These nicht nur von den Europawahlen Juni 2024 belegt, sondern auch durch die Regionalwahlen in drei deutschen Bundesländern. Dort gingen die AfD als stärkste oder zweitstärkste Kraft hervor. Die Übernahme rechter und rechtspopulistischer Konzepte und Positionen – bis hin zum Ausstieg aus unionsrechtlichen Verpflichtungen – durch die CDU/CSU hat dieser keinen Wahlsieg eingebracht, ebenso wenig wie der Ampelkoalition. Auf Bundesebene liegen deren gemeinsame Umfragewerte bei unter 30%, trotz Ankündigung einer „neuen Härte“ in der Migrationspolitik, Forcierung von Abschiebungen und Unterwanderung des erst kürzlich erzielten Asylkompromisses auf europäischer Ebene. Oder vielleicht genau deswegen.

Was es jetzt braucht

Die Übernahme rechter Positionen bei gleichzeitiger Untergrabung zentraler europäischer Prinzipien, allen voran der Personenfreizügigkeit und des Prinzips der Nicht-Zurückweisung, ist nicht nur migrationspolitisch ineffektiv. Sondern sie belohnt in letzter Konsequenz anti-europäische Parteien (weit) rechts der Mitte, die sich gemeinsamer europäischer Lösungen verweigern bzw. diese aktiv torpedieren. Das ist, in Zeiten zunehmender geopolitischer Herausforderungen und der Gefahr des weiteren Vertrauensverlusts der Wähler:innen angesichts wiederholt enttäuschter Erwartungen, eine kontraproduktive Entwicklung in der bundesdeutschen ebenso wie europäischen Asyl- und Migrationspolitik.

Was diese jetzt braucht, ist einen gesunde Portion Pragmatismus, Realitätssinn, Faktenbasiertheit – und ein unumstößliches Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und Humanität als zentrale Säulen des deutschen Grundgesetzes. Vor allem aber braucht es mehr und nicht weniger Europa. Wie das konkret gelingen kann, skizzieren die folgenden Empfehlungen.

Durchsetzung von Regeln

Geltende Regeln müssen wieder zur Durchsetzung gebracht und Umsetzungsdefizite geschlossen werden. Ziel muss, ganz pragmatisch, sein, dass die Mehrheit der Mitgliedstaaten die Mehrheit der Asylregeln zur Umsetzung bringt. Ist das Gegenteil der Fall, wie es sich seit geraumer Zeit abzeichnet, so fühlen sich nationale Staats- und Regierungschef:innen schnell dazu berufen, das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen und nationalstaatliche Alleingänge abseits des europäischen Konsenses zu starten. Das wiederum führt in der Regel zu noch restriktiveren Maßnahmen, die aber selten jene Wirkung entfalten, für die sie intendiert sind. Und damit erst recht die Enttäuschung des Wählers befördern und Rechtsaußen-Parteien stärken. Diese Unterbietungsspirale zu unterbinden, muss Kernaufgabe der neuen EU-Kommission sein.

Faire, rechtsstaatliche, rasche Verfahren und menschenwürdige Unterbringung

Zwei wesentliche Bausteine dabei sind (a) faire, rechtsstaatliche, rasche Verfahren und (b) menschenwürdige Unterbringung. Wären diese beiden Eckpfeiler eines funktionierenden Asylsystems in allen Mitgliedstaaten umgesetzt, würden sich wesentlich weniger Menschen auf die strapaziöse, gefährliche Weiterreise in die nördliche oder westliche EU machen. In zahlreichen Mitgliedstaaten werden diese Minimalstandards aber, teils bewusst, seit Jahren unterwandert, um Schutzsuchende abzuschrecken. Das funktioniert nur, solange es noch andere Mitgliedstaaten gibt, in die sie weiterreisen können. Dazu zählt Deutschland, das seine Vorreiterrolle bisher aber nicht selbstbewusst als Vorbild für den Rest Europas darstellt, sondern von rechtspopulistischen Parteien kleinreden lässt. Dass hierzulande Rechtsstaatlichkeit auch und gerade im Asylbereich hochgehalten wird, sollte der Ampelkoalition, auch ohne die historische Verantwortung Deutschlands bemühen zu müssen, Gewicht und Glaubwürdigkeit in innereuropäischen Debatten zur Umsetzung der neuen Asylregeln verleihen (siehe nächster Punkt).

Vollumfängliche Umsetzung des Solidaritätsmechanismus

Gerade für Deutschland ist eine vollumfängliche Umsetzung des Solidaritätsmechanismus der kürzlich beschlossenen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wichtig. Diese sieht eine verpflichtende Beteiligung aller Mitgliedstaaten an Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten vor. Für die Umsetzung dieser Reform wird der neue EU-Kommissar für Migration und Inneres verantwortlich sein. Dafür hat die Kommission zwei Jahre, bis 2026, eingeräumt. Das klingt nach einem entspannten Zeitplan, ist aber angesichts der hohen Komplexität dieser umfassenden Reform sehr ambitioniert – vor allem, weil manche Mitgliedstaaten, allen voran Ungarn, bereits bei der Abstimmung ausscherten und ankündigten, sich nicht an der flexiblen, verpflichtenden Solidarität beteiligen zu wollen. Dabei wäre gerade die der für Deutschland wesentlichste Baustein dieser Reform. Denn aufgrund der hohen Asylzahlen der letzten Jahren würde die Bundesrepublik von einer faireren Verteilung Schutzsuchender in der EU profitieren und es müssten weniger Asylsuchende aufgenommen bzw. auf andere Länder verteilt werden. Diesbezügliche europäische Anstrengungen durch nationale Alleingänge zu unterwandern, ist also kontraproduktiv. Viel mehr müsste sich Deutschland innerhalb der Union auf jene Länder einwirken, die sich ihrer Asylverantwortung entziehen.

Schutz von Schengen und europäisch abgestimmte Außengrenzkontrollen

Schengen ist Teil der Lösung und nicht das Problem. Das wissen auch die Polizist:innen an den Schengen-Binnengrenzen, die jüngst zu deren „smarter“ Überwachung abbestellt wurden: „Solange die Zustände in den Erstaufnahmeländern teils menschenunwürdig sind, der Grenzschutz an den Schengen-Außengrenzen nicht seinen Zweck erfüllt und das Dublin-Verfahren im Schengen-Binnenraum ebenfalls nicht wirksam funktioniert, wird es keine dauerhafte und nachhaltige Ordnung und Steuerung der Migration geben“, schreibt die Gewerkschaft der Bundespolizei und zeigt dadurch einen gangbaren Lösungsweg auf. Für ein Europa, das beiden Seiten Sicherheit bietet, braucht es im europäischen Verbund abgestimmte Grenzkontrollen an den Außengrenzen, die auch gemeinsam bezahlt werden und im Einklang mit den Grundrechten Schutzsuchender stehen müssen. Letzteres muss von einer unabhängigen Stelle (zum Beispiel der Europäischen Grundrechteagentur, siehe unten) überwacht werden. Nur damit wird verhindert, dass nationale Vorstöße die europäische Kohäsion weiter gefährden.

Stärkung der Europäischen Grundrechtsagentur

Um Asylregeln zur Durchsetzung zu bringen und jene Mitgliedstaaten zu unterstützen, in denen dies bereits der Fall ist, gilt es, die Europäische Grundrechtsagentur zu stärken. Verglichen mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex – die selbst immer wieder in den Verdacht gerät, sich an Menschenrechtsverletzungen zu beteiligen oder bewusst wegzuschauen – verfügt sie über eine bescheidene budgetäre Ausstattung und nur bedingt Kompetenzen, um Grundrechtsverletzungen im Asyl- und Migrationsbereich entgegenzutreten. Dass sie ihren Sitz in Wien hat, könnte ihr in der neuen Legislaturperiode zum Vorteil gereichen, denn hier wird sich auch der österreichische EU-Kommissar für Migration des Öfteren aufhalten.

Vereinfachte Verfahren für Fach- und Arbeitskräfte

Angesichts des rapide voranschreitenden demographischen Wandels in Deutschland wie auch im Rest Europas gilt es, das Asylsystem durch das Anbieten alternativer, regulärer Wege für Fach- und Arbeitskräfte zu entlasten. Dass der Bedarf für Deutschland groß ist, zeigt unter anderem die vor kurzem beschlossene Fachkräftestrategie Indien der Bundesregierung. Zu leichteren Zugangswege für solche Fachkräfte zählen komplementäre Pfade für Geflüchtete aus Kriegs- und Krisensituationen, deren Qualifikationen auf die Bedürfnisse des Aufnahmelandes abgestimmt sind, ebenso wie Möglichkeiten zur zirkulären Migration und Ausbildungspartnerschaften in Drittstaaten, die Migrations- wie auch Bleibewilligen Perspektiven bieten. Denn reguläre Einreisen bedeuten kontrollierte Einreisen mit Identitätsfeststellung und klarer Nachvollziehung.

Bekämpfung islamistischer und rechtsextremistischer Bedrohung

Gleichzeitig bedarf es einer europäisch koordinierten Bekämpfung von islamistischen und rechtsextremen Bedrohungen. Denn nicht vergessen werden sollte angesichts der hitzig geführten Migrationsdebatte, warum diese ursächlich gestartet worden war: Trauriger Anlassfall war unter anderem das extremistische Attentat in Solingen. Konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung islamistischer Radikalisierung, die in Deutschland und unter im Inland geborenen und aufgewachsenen Personen stattfindet, wurden seither aber weitaus seltener diskutiert als Grenzschließungen und Rückführungen. Diese Maßnahmen müssen zudem auch stärker europäisch gedacht werden, denn Terror ist grenzüberschreitend, ebenso wie es die Netzwerke des IS sind. Das zeigte zuletzt auch der vereitelte Anschlag eines Österreichers vor dem NS-Dokumentationszentrum in München. Als Unionsbürger kam dieser ungehindert durch die Kontrollen an der bayrischen Grenze. Effektiver als solche Scheinlösungen wäre es, bestehende EU-Institutionen zur Radikalisierungsprävention zu stärken, wie etwa das Aufklärungsnetzwerk gegen Radikalisierung (Radicalisation Awareness Network, RAN) und die Meldestelle für Internetinhalte zur Bekämpfung terroristischer und gewaltverherrlichender extremistischer Propaganda (Europol). Die 2021 verabschiedete Verordnung zur Bekämpfung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte und der 2020 vorgestellte Aktionsplan der Kommission zur effektiven Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung harren ebenfalls noch der Umsetzung.

Fazit

Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass die europäische "Flüchtlingskrise" der letzten zehn Jahre im Wesentlichen eine politische Krise war und ist, die sich aus dem Mangel an Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten nährt: Zwischen 2014 und 2023 wurden in Deutschland und Österreich mehr als die Hälfte aller positiven Asylbescheide der EU ausgestellt. So betrachtet fahren beide Länder also bereits seit Jahren (unfreiwillig) nationale Alleingänge, wenn auch zu ihren Ungunsten, während andere Mitgliedsstaaten vom Ausscheren aus dem europäischen Konsens profitieren. Eine gemeinsame europäische Lösung würde den Druck fairer auf die gesamte EU verteilen, nationale Aufnahmekapazitäten entlasten und Umsetzungslücken in anderen Ländern schließen. Auf diese europäische Lösung entlang der oben skizzierten Maßnahmen hinzuarbeiten, muss deshalb auch und gerade das Ziel Deutschlands sein.

 

Foto: CC Ayelt van Veen, Quelle: Unsplash